Bundeshaus Bern Andreas Fischinger
06.10.2023 Umweltpolitik

«Ihre Stimme zählt!»

Am 22. Oktober wird ein neues Bundesparlament gewählt — eine wichtige Gelegenheit, den Naturschutz zu stärken und eine Energiewende zu ermöglichen, welche nicht zulasten der Biodiversität geht.

Ein Blick auf die zu Ende gehende Legislatur zeigt: In Sachen Naturschutz ist kaum etwas vorangegangen, im Gegenteil, der Druck auf die Natur hat in den vergangenen vier Jahren unter der Bundeskuppel enorm zugenommen (siehe unter anderem auch Interview mit unserer Präsidentin und Nationalrätin ­Ursula Schneider Schüttel im letzten Pro Natura Magazin). Trendwende zugunsten der Natur? Fehlanzeige! Die nach den Wahlen 2019 oft proklamierte grüne Welle wurde bald geglättet, bevor sie überhaupt richtig Kraft entwickelt hat.

Ständerat als umweltpolitischer Bremsklotz

Besonders bedenklich: Errungenschaften für den Schutz unserer Natur und Landschaft, welche sich während vieler Jahre bewährt haben, wurden mit einem Wisch vom Tisch gefegt. Als besonders wischfreudig hat sich der Ständerat erwiesen. Im früher viel gelobten «Chambre de réflexion» scheint nicht wenigen Mitgliedern der Wille oder die Fähigkeit zur Reflexion abhandengekommen zu sein, insbesondere in Bezug auf Umweltthemen. 

Das Umweltrating der Umweltorganisationen zeigt, dass der Ständerat bei zwei Dritteln der umweltrelevanten Abstimmungen gegen die Umwelt gestimmt hat (Nationalrat: ca. die Hälfte der Abstimmungen für die Umwelt): der Ständerat als umweltpolitischer Bremsklotz. 

Gletschervorfeld
Faktenbasierte Entscheidungshilfe

Die von der Umweltallianz betriebene Website ecorating.ch bietet eine praktische und fakten­basierte Entscheidungshilfe: Sie wertet von allen Parlamentarier/-innen deren Verhalten in umweltrelevanten Themen aus. Dabei wird rasch klar: Wer eine konsequent umweltfreundliche Politik unterstützen will, ist bei den Grünen, der SP, der EVP und der GLP (in dieser Reihenfolge) meistens hervorragend bis gut aufgehoben.

Nicht nur das: Aus Natur- und Landschaftsschutzsicht besonders kritische Initiativen wie der ­«Solarexpress» oder der «Windexpress» sind in der Kleinen Kammer geboren worden. Dass mit einem Ausbau der erneuer­baren Energieträger ohne Rücksicht auf die Natur das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, wen kümmerts. Die Bevölkerung nimmt die unterschiedliche Entwicklung in der politischen Ausrichtung der beiden Parlamentskammern durchaus wahr. Der SRG-Wahlbarometer vom Juli 2023 stellt beispielsweise eine deutliche Zunahme jenes Anteils der Befragten fest, die den Ständerat «als zu rechts betrachten», von 31 Prozent im Oktober 2019 auf aktuell 42 Prozent.

Biodiversitätskrise kaum im Fokus

Dass mit der Biodiversitätskrise für uns alle existenzielle Lebensgrundlagen bedroht sind, wird von einer Mehrheit der Politikerinnen und Politiker schlicht ignoriert. Bisheriger Tiefpunkt: Die Mehrheit des Ständerates verweigert sich der Diskussion dieser zentralen gesellschaftlichen Herausforderung und tritt nicht einmal auf einen indirekten Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative der Umweltorganisationen ein. Was auffällt: Die Biodiversitätskrise findet auch in den Medien fast keine Erwähnung, wenn Journalistinnen und Journalisten aktuell über die zentralen Herausforderungen von Politik und Gesellschaft in den kommenden vier Jahre sinnieren. Zwischen der Wahrnehmung der Bedeutung der Biodiversität als unser aller Lebensgrundlage und der Wahrnehmung vom Ausmass ihrer Bedrohung klafft (zu) oft eine grosse Lücke.

Wie ist das Problembewusstsein bei der Stimmbevölkerung? Gemäss SRG-Wahlbarometer vom Juli 2023 sehen 

den Klimawandel
den ­Natur- und Landschaftsschutz

als grösste ­politische Herausforderungen der Schweiz. Können diese Themen für die ­nationalen Wahlen die gleiche oder eine noch grössere Mobilisierungskraft entwickeln wie vor vier Jahren? Wir wissen es (noch) nicht. Aber die für uns alle wahrnehmbare Verschärfung der Klima- wie auch der Biodiversitätskrise und die weltweiten Alarm­zeichen lassen keinen anderen Schluss zu: Wir brauchen in Bern dringend mehr Politikerinnen und Politiker, die willens und fähig sind, diese zentralen Herausforderungen so anzu­gehen, dass wir uns als Gesellschaft zukunftsfähig ­entwickeln.

So weit sind leider noch längst nicht alle Volksvertreterinnen und -vertreter. Wenn sich beispielsweise in der Sonntagspresse (NZZ am Sonntag, 16.7.23) (bürgerliche) Politiker dahingehend zitieren lassen, dass es zukünftig primär darum gehe, Anpassungen an den Klimawandel zu finanzieren statt dessen Ursachen zu bekämpfen, entlarvt dies einen bedenklich kurzsichtigen Problemlösungsansatz – der nicht zukunftstauglich ist. Schutz vor den Auswirkungen des Klimawandels und Bekämpfung von dessen Ursachen dürfen wir nicht ­gegeneinander ausspielen; wir brauchen dringend beides. ­Ansonsten nimmt die Klimaerhitzung so stark zu, dass unsere Schutzmassnahmen nicht viel mehr sein werden als ein Tropfen auf den sprichwörtlich heissen Stein. 

Stärken Sie den Naturschutz

In den kommenden vier Jahren werden in Bundesbern zu Natur und Umwelt wichtige Weichen gestellt, die mitentscheiden, ob wir als Gesellschaft zukunftsfest sind. Weitere Entscheidungen zu Klimaschutz, Energiewende, Förderung der Biodiversität, Bauen ausserhalb der Bauzone oder Landwirtschaft stehen an. Hierzu nur ein Beispiel: Während ich diese Zeilen schreibe, vernehme ich, dass die Umweltkommission des Nationalrats UREK-N an ihrem Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative festhält, mit 13:8 Stimmen, bei 3 Enthaltungen. Ein wichtiger Etappensieg. Bis zur Schlussabstimmung über diese Vorlage müssen aber im Pingpong zwischen National- und Ständerat noch viele Hürden genommen werden; die Mehrzahl davon in der neuen Legislatur. Wir alle können am 22. Oktober mit unserem Wahlzettel darauf Einfluss nehmen, dass diese Hürden nicht zu hoch sind. Bitte nutzen Sie die Möglichkeit, die politische Landschaft der Schweiz mitzugestalten. Und prüfen Sie genau, wer glaubwürdig für existenziell notwendige Weichenstellungen in der Umweltpolitik eintritt.

Umweltrating der Parteien (2019-2023)
Umweltrating Isabelle Bühler

Mit www.ecorating.ch bieten Ihnen die Umweltorganisationen eine wichtige Entscheidungshilfe. Auch Ihre Stimme zählt! Vielen Dank.

Urs Leugger-Eggimann, Pro Natura Geschäftsleiter.

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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