Die Schweiz braucht eine Biodiversitätsoffensive
Ein zentrales Ziel der Biodiversitätsinitiative ist es, mehr Flächen für die Biodiversität zu sichern. Denn momentan stehen in der Schweiz nicht genügend Flächen zur Verfügung, um den Rück-gang der Biodiversität zu bremsen.
Bis jetzt hat die Natur nur auf einer kleinen Fläche der Schweiz Vorrang: Lediglich auf 5,9 Prozent der Landesfläche geniesst die Natur einen rechtlich umfassenden Schutz. Diese Fläche umfasst die nationalen Schutzgebiete mit dem Nationalpark und der Kernzone der Naturerlebnispärke (0,4 %) sowie die Biotope von nationaler Bedeutung (2,2 %). Dazu kommen die kantonalen, regionalen und lokalen Naturschutzgebiete in Umfang von 3,3 Prozent; darunter fallen auch die Waldreservate der Kantone.
Schwächer geschützt sind die Jagdbanngebiete (3,65 % der Landesfläche) sowie die Wasser- und Zugvogelreservate (0,55 %). Werden diese ebenfalls angerechnet, machen die Schutzgebiete rund zehn Prozent der Landesfläche aus.
Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) geht noch weiter und nennt zwei weitere Kategorien von Schutzgebieten: Einerseits sind dies Schutzgebiete von internationaler Relevanz (1 %, hier handelt es sich um die Smaragd- und Ramsargebiete). Diese Flächen sind zwar ausgewiesen, haben aber keinen Schutz nach schweizerischem Recht. Andererseits nennt das Bafu auch die landwirtschaftlichen Biodiversitätsflächen mit Qualität 2 (2,7 %). Letztere können eigentlich nicht als Schutzflächen gelten, denn sie sind nicht langfristig gesichert.
Europäisches Schlusslicht
Selbst wenn diese eigentlich nicht anrechenbaren Gebiete in die Gesamtrechnung einfliessen, machen alle Schutzgebiete der Schweiz, welche die Biodiversität fördern sollen, nicht einmal 14 Prozent der Landesfläche aus. Damit gehört die Schweiz im europäischen Vergleich zu den Ländern mit dem tiefsten Flächenanteil.
Die Biodiversitätsinitiative verlangt deshalb, dass die Schweiz die erforderlichen Flächen zum Erhalt der Biodiversität sichert. Sie nennt kein konkretes Flächenziel. Dies aus zwei Gründen:
- Die Bundesverfassung, die bei einer Annahme der Initiative entsprechend abgeändert würde, legt langfristige und übergeordnete Ziele der Eidgenossenschaft fest. Für detaillierte Vorgaben gibt es Gesetze und Verordnungen. Ein Flächenziel wäre in der Verfassung also am falschen Ort.
- Zweitens fehlt noch die aktuelle wissenschaftliche Grundlage, wie viel Fläche denn für die Sicherung der Biodiversität erforderlich ist. Diese Grundlagen erarbeitet zurzeit die Organisation Infospecies im Auftrag des Bafu.
Experten fordern: «30 by 30»
Laut einer Studie der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften aus dem Jahr 2013 sollte die Erhaltung und Förderung der Biodiversität auf rund einem Drittel der Landesfläche Vorrang haben. Gut 30 Prozent also – so viel wird aktuell auch international gefordert: Im Rahmen der Verhandlungen rund um die Biodiversitätskonvention und des neuen globalen Zielrahmens für die biologische Vielfalt haben sich 60 Länder von sechs Kontinenten – darunter auch die Schweiz – zur «High Ambition Coalition for Nature and People» (HAC) zusammengeschlossen. Sie wollen 30 Prozent der Landesfläche und der Ozeane bis 2030 schützen («30 by 30»). Die HAC wurde von den Staatspräsidenten Frankreichs und Costa Ricas ins Leben gerufen.
Kürzlich hat der Bundesrat offiziell das Verhandlungsmandat der Schweizer Delegation für die Biodiversitätskonferenz verabschiedet. Die Schweizer Delegation will sich für ambitionierte, messbare und prägnante Ziele einsetzen – so auch «30 by 30». Dazu braucht es gemäss Aussagen des Bundesrates nebst der Bestimmung von Schutzgebieten zusätzliche Massnahmen: die Revitalisierung von Flüssen, die Erhaltung und Förderung von wertvollen Gebieten für die Biodiversität sowie die Erhaltung und Schaffung von Gebieten, die der Vernetzung der Lebensräume von Wildtieren dienen. Also genau das, was die Biodiversitätsinitiative verlangt.
Gegenvorschlag mit ungenügenden Zielen
Vor diesem Hintergrund wirkt es unverständlich, warum der Bundesrat im Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative gerade mal 17 Prozent der Landesfläche für die Biodiversität sichern will – ein Ziel, zu dessen Umsetzung sich die Schweiz im Rahmen der Biodiversitätskonvention ohnehin bis 2020 verpflichtet hat. Ein altes, noch dazu verfehltes Ziel soll also für Jahrzehnte hinaus in unserem Natur- und Heimatschutzgesetz verankert werden. So sieht keine kohärente Biodiversitätspolitik aus.
Die Vernehmlassung des indirekten Gegenvorschlags zur Biodiversitätsinitiative ging am 9. Juli zu Ende. Auch der Trägerverein, bestehend aus Pro Natura, BirdLife Schweiz, dem Schweizer Heimatschutz, der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz sowie weiteren Organisationen, hat sich in einer Stellungnahme dazu geäussert. Bis im Frühling 2022 hat der Bundesrat Zeit, die Stellungnahmen zu sichten und zu analysieren. Dann muss der Bundesrat den überarbeiteten indirekten Gegenvorschlag inklusive Botschaft dem Parlament überweisen. Die darauffolgenden parlamentarischen Debatten werden zeigen, in welche Richtung sich der Gegenvorschlag entwickelt. Erst nach dieser Phase kann eine Einschätzung erfolgen, ob ein Rückzug der Biodiversitätsinitiative in Frage kommt oder ob es eine Volksabstimmung braucht.
SIMONA KOBEL betreut bei Pro Natura die Biodiversitätsinitiative.
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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