«Das hier ist ein Dammbruch beim Wolfsschutz»
Pro Natura Magazin: Michael Bütler, wie steht es aus juristischer Sicht um den Wolf in der Schweiz?
Michael Bütler: Juristisch wird aus dem geschützten Wolf eine jagdbare Art. Faktisch droht ihm diesen Winter im ungünstigsten Fall ein Massaker.
Sie haben den Revisionsentwurf der Jagdverordnung für Pro Natura juristisch eingeordnet. Wären Sie Lehrer, welche Schulnote würden Sie geben?
Auf jeden Fall eine ungenügende. Eine 3 vielleicht, eher weniger.
Warum?
Eine Verordnung sollte nur die Details zur Umsetzung der allgemeinen Vorgaben von Gesetz oder Verfassung regeln. Die neuen Bestimmungen sind selbst für Fachpersonen nicht leicht verständlich und – je nach Auslegung – mit verschiedenen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundsätzen schwer zu vereinbaren.
Mit welchen zum Beispiel?
Da gibt es das Völkerrecht, also die Berner Konvention zur Erhaltung von wildlebenden Tieren, oder die schweizerische Bundesverfassung, die vorsieht, dass der Bund gefährdete Arten vor der Ausrottung bewahren muss. Es gibt verschiedene Gesetze: das Jagdgesetz, das Natur und Heimatschutzgesetz oder das Waldgesetz. Diese neuen Regelungen in der Jagdverordnung stellen ein Interesse in den Vordergrund, nämlich die Art Wolf zu dezimieren. Zugespitzt formuliert: fast unbesehen von anderen, gleichberechtigten Interessen.
Wie steht diese Jagdverordnung denn mit dem übergeordneten Jagdgesetz in Konflikt?
Im revidierten Jagdgesetz, das teilweise im Dezember 2023 in Kraft getreten ist, steht, dass der Bestand der Population nicht gefährdet werden darf. Der Wolf darf also nicht ausgerottet werden. Wenn nun gemäss Jagdverordnung alle Kantone die Wolfsbestände maximal dezimieren würden, könnte es sein, dass der Wolf lokal oder regional nicht mehr überlebensfähig ist.
Im Jagdgesetz steht auch, dass Wolfsregulierungen «erforderlich sein (müssen), um das Eintreten eines Schadens oder einer Gefährdung des Menschen zu verhindern, sofern das durch zumutbare Schutzmassnahmen nicht erreicht werden kann». Es gilt also noch immer, dass vor dem Abschuss Schutzmassnahmen wie elektrische Zäune und Herdenschutzhunde ergriffen werden müssen. Sagt das auch die Verordnung?
Die Verordnung fordert das nicht. Sie will eine Regulierung auf minimal zwölf Rudel ermöglichen, starr auf fünf grosse Regionen verteilt. Das Einhalten der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Voraussetzungen geht allerdings vor – also den Wolf nicht auszurotten, vor dem Abschuss zumutbare Schutzmassnahmen zu ergreifen und nur einzugreifen, wenn ein erster kleiner Schaden eingetreten und dokumentiert ist. Zudem muss ein grosser Schaden drohen und durch die Entfernung des Rudels voraussichtlich verhindert werden können.
Wenn die Verordnung dem Gesetz widerspricht, hält sie denn vor dem Recht überhaupt stand?
Erlässt der Bundesrat verfassungs- und gesetzeswidrige Verordnungsbestimmungen, sind diese im Einzelfall rechtlich angreifbar. Die neuen Regelungen sind eher unklar und es stellen sich verschiedene Fragen. Wie werden die Abschussgesuche der Kantone ausgestaltet und begründet sein? Wird das Bafu diesen ganz oder nur teilweise zustimmen? Wie viele der Abschussgesuche werden die Umweltverbände anfechten? Erst mit der Umsetzung wird sich zeigen, wie die Regelungen ausgelegt werden und ob sie den übergeordneten Vorgaben standhalten.
Schiebt der Bund die Verantwortung für den Umgang mit dem Wolf an die Kantone ab?
Ja, der Bund stiehlt sich ein Stück weit aus der Verantwortung und überlässt diese stärker den Kantonen und den Umweltverbänden. Das ist aus mehreren Gründen problematisch: Erstens ist der Bund gemäss Verfassung für den Artenschutz zuständig, diese Aufgabe gibt er hier meiner Meinung nach zu stark aus den Händen. Zweitens wird in der aktuell aufgeheizten Stimmung der Druck auf Kantone und Umweltverbände ansteigen. Und drittens soll diese Revision nur temporär bis Anfang Januar 2025 gelten. Der Bund kommt den Wolfsgegnern stark entgegen, sodass es danach erschwert sein wird, die Hürde wieder zu erhöhen. Bisher wurde der Wolfsschutz stets in kleinen Schritten gelockert. Das hier könnte ein Dammbruch sein.
Sie haben den Schwellenwert von minimal zwölf Rudeln angesprochen, die der Bund vorsieht. Spricht juristisch etwas gegen diese starre Zahl?
Das Bafu begründet nicht, wie es auf die Zahl zwölf kommt und wie mit dieser Anzahl an Rudeln das Überleben des Wolfes gesichert sein soll. Abgesehen davon, dass es Studien gibt, die mehr als zwölf Rudel empfehlen, werden zwei juristische Prinzipien verletzt: Das Verhältnismässigkeitsprinzip, das besagt, dass eine staatliche Massnahme nicht weiter gehen darf als nötig, und das Legalitätsprinzip, das voraussetzt, dass eine so einschneidende und neue Bestimmung auf Stufe des Gesetzes geregelt sein sollte, nicht auf Verordnungsstufe.
Bei dieser einschneidenden Veränderung in einem so umstrittenen Thema wäre es wünschenswert gewesen, dass der Bund besonders vorsichtig vorgegangen wäre. Was kritisieren Sie am Vorgehen des Bundes?
Ich habe das Gefühl, der Bund will den Partikularinteressen der Nutztierhalten vorschnell und einseitig entgegen kommen – zulasten einer geschützten Tierart. Zum einen fehlte die angemessene Diskussion und demokratische Mitwirkung aller Akteure, die es bei solch grundsätzlichen Fragen bräuchte. Es gab für ein paar ausgewählte Verbände die Möglichkeit, während weniger Tage Stellung zu nehmen, das ist einer Vernehmlassung nicht würdig. Weiter sollten so weitgehende Regelungen auf Gesetzesstufe mit Referendumsmöglichkeit eingeführt werden. Meiner Meinung nach ist das ein unstatthaftes Vorgehen. Deshalb wäre es wünschbar, dass gegebenenfalls fragwürdige oder gesetzeswidrige Abschussverfügungen gerichtlich überprüft und wichtige Fragen geklärt werden.
BRIGITTE WENGER, freischaffende Journalistin
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Der 55-jährige Jurist Michael Bütler konzentriert sich mit seinem Anwaltsbüro bergrecht.ch in Zürich auf die Schwerpunkte Raumplanungs- und Umweltrecht sowie Naturgefahren.
Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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