Bienen und Fliegen auf Wildblume Matthias Sorg
11.01.2018 Artenschutz

«Das Bienensterben ist nur die Spitze des Eisbergs»

Eine im Herbst veröffentlichte deutsche Studie belegt das rasante Verschwinden von Insekten. Yves Gonseth, Entomologe und Leiter des Schweizerischen Zentrums für Kartografie der Fauna in Neuenburg, ist beunruhigt.

Pro Natura Magazin: In Europa ist die Masse der Insekten in drei Jahrzehnten um 75 Prozent zurückgegangen. Geben diese Zahlen einem Entomologen besonders zu denken?
Yves Gonseth:
Das Ergebnis der Studie macht mich in der Tat hellhörig, aber nicht, weil Insekten mein Studienobjekt sind und mich besonders faszinieren, sondern weil die Daten objektiv beunruhigend sind – selbst wenn sie mich nicht überraschen.

Inwiefern beunruhigend?
Die Erhebung zeigt, dass es um die Biodiversität miserabel bestellt ist. Das von den Medien oft zitierte Bienensterben ist nur die Spitze des Eisbergs. Insekten machen in der Schweiz 47 Prozent der Arten­vielfalt insgesamt und 73 Prozent der Tierarten aus. Mit dem Rückgang der Insekten steht auch das Gleichgewicht der Ökosysteme auf dem Spiel, denn Insekten spielen in verschiedensten Prozessen eine zentrale Rolle. Mehr als 80 Prozent unserer Wildpflanzen sind für die Bestäubung auf Insekten angewiesen, und für 60 Prozent der Vögel sind sie die Haupt­nahrungs­quelle. Gleichzeitig spielen Insekten im Abbau von organischem Material pflanzlichen Ursprungs (zum Beispiel abgefallenes Laub) und tierischer Herkunft (zum Beispiel Exkremente von Weidevieh) eine entscheidende Rolle.

Sie bezeichnen die Entwicklung als beunruhigend, sind aber nicht überrascht. Heisst das, dass die Tragweite der Katastrophe zwar bekannt ist, wir also genug wissen, aber nicht genug tun, um das Insektensterben aufzuhalten? 
Die Situation ist tatsächlich nicht neu. Heute treten zwar die Folgen zutage, doch haben sich diese über längere Zeit angebahnt, vor unseren Augen. Nur konnten wir sie nicht beziffern. Trotz verschiedener Massnahmen zur Förderung der Biodiversität geht ihr Rückgang im Kulturland unaufhaltsam weiter. Ich stelle das jedes Jahr von neuem fest, wenn ich es wage, an einen Ort zurückzugehen, an dem ich schon einmal kartiert habe. Der Rückgang des Westlichen Scheckenfalters beispielsweise, eine typische Schmetterlingsart für Trockenwiesen und -weiden, ist eine Tatsache, die sich sowohl regional als auch im gesamten Verbreitungs­gebiet nachweisen lässt. 

Die Studie wurde in 63 Naturschutzgebieten im deutschsprachigen Raum durchgeführt. Ist das Besorgniserregende daran nicht gerade die Tatsache, dass der Rückgang ausgerechnet in Schutzzonen so massiv ist?
Man muss natürlich berücksichtigen, wo diese Schutzgebiete liegen. Die meisten der untersuchten Schutzgebiete befinden sich in niedrigen Höhenlagen, sie sind eingezwängt zwischen Ackerflächen, die intensiv bewirtschaftet werden, oder sie werden selber genutzt. Sie sind deshalb mindestens indirekt den Auswirkungen von Kunstdüngern, Herbiziden, Fungiziden oder Insektiziden mit breitem Wirkungsspektrum ausgesetzt. Schutzgebiete befinden sich ja nicht unter einer Glocke. Die Ergebnisse der Studie zeigen somit einmal mehr, welchen Einfluss die Landwirtschaft auf die Biodiversität insgesamt hat. Umso wichtiger wäre es, Schutzmassnahmen zu verstärken, nicht zu reduzieren.  

Die Landwirtschaft steht am Pranger, und doch sind die Gründe für den Arten­rückgang nicht klar belegt. 
Die Autoren der Studie räumen ein, dass andere Faktoren, wie etwa die schwankenden klimatischen Bedingungen, die Biomasse an Fluginsekten im Verlaufe einer Jahreszeit oder von einem Jahr auf das nächste ebenfalls beeinflussen können. Bei einem derart krassen Rückgang insgesamt müssen die Ursachen jedoch anderswo gesucht werden. Und da kommen die Intensivierung landwirtschaftlicher Praktiken und der breite Einsatz von Bioziden ins Spiel, aber ebenso die Übernutzung von Wasserressourcen, der unselige Umgang mit Hecken, Wald­rändern, Böschungen entlang von Strassen und Bahngeleisen sowie die übermässige Verjüngung des Waldes. Das sind alles Praktiken, die Schutzgebiete massiv beeinträchtigen. Heute ist die unterste Stufe der Nahrungspyramide in Gefahr, und kurzfristig leiden alle Organismen eines Standorts darunter.

Sie appellieren an die individuelle und kollektive Verantwortung. Was meinen Sie damit genau?
Ich bin zwar Wissenschaftler, aber meine Beziehung zur Natur basiert nicht nur auf Daten und Analysen. Ich spüre die Natur mit meinem Fleisch und Blut. Natürlich ist die kollektive Verantwortung der Politik und der Entscheidungsträger wichtig, um den Verlust der Biodiversität aufzuhalten. Aber ich rufe auch jede und jeden einzeln auf, sich zu überlegen, welche Beziehung man zur Umwelt hat. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere individuelle Verantwortung wahrnehmen und unsere Gleichgültigkeit, unser Unwissen und unsere Tatenlosigkeit ablegen.

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Auch in der Schweiz
Die Studie der Krefelder Entomologen hat von 63 Naturschutzgebieten im deutschsprachigen Raum die Daten über 27 Jahre zusammengetragen. Die Gesamtbiomasse an Fluginsekten, die in Fallen gefangenen wurden, ist im Schnitt um 76 Prozent zurückgegangen, im Hochsommer gar um 82 Prozent. Gemäss den Autoren der Studie dürften die Ergebnisse stellvertretend für eine Entwicklung sein, die sich in Europa insgesamt - und somit auch in der Schweiz - abzeichnet. Die klimatischen und landwirtschaftlichen Rahmenbedingungen der verschiedenen Schutzgebiete im Kulturland sind vergleichbar. 
Die Studie weist erneut auf unsere Verantwortung für den rasanten und alarmierenden Rückgang der Biodiversität hin und fordert dringende Massnahmen, nicht zuletzt auch finanzieller Art, um diesen Rückgang zu bremsen. Gleichzeitig zeigt auch der Umweltbericht 2017 der OECD auf, dass die Schweiz in Sachen Schutz der Biodiversität alles andere als eine Musterschülerin ist und in diesem Bereich zusätzliche Anstrengungen unternehmen muss.

 

FLORENCE KUPFERSCHMID-ENDERLIN ist Redaktorin der französischsprachigen Ausgabe des Pro Natura Magazins. 

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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