Ruhe, bitte!
Es ist ein frischer Herbstmorgen im Val Cluozza, der Keimzelle des Schweizerischen Nationalparks. Der Platz vor der Cluozza-Hütte ist noch menschenleer. Der erste Wintereinbruch hat einige Tage zuvor die umliegenden Gipfel mit Puderzucker bestreut. Im Talgrund rauscht die Ova da Cluozza frei und wild dem Spöl entgegen. Ein Vogellaut setzt ab und zu einen kleinen Klangtupfer. Noch schwingt in meinen Gedanken das urige Röhren der Hirsche nach, dem wir hier am Vorabend lauschten.
Aus der Cluozza-Hütte dringt inzwischen Geschirrklappern und Stimmengewirr. Das Frühstück ruft. Eine Stunde später sind wir unterwegs Richtung Murter-Sattel. Das Rauschen der Ova da Cluozza weicht langsam zurück. Die einzigartige Stille der Bergwelt umfängt uns. Kann man Stille hören? Auf den letzten Metern zum Murter kämpfen wir uns durch Schlamm und schmelzenden Schnee. Mein eigenes Keuchen ist das dominierende Geräusch. Ab und zu schneidet ein Pfiff durch die Luft. Murmeltiere treffen letzte Wintervorbereitungen.
Auf 2545 Metern überschreiten wir den Murter-Sattel. Wir treten hinüber in die Geräuschwelt des Val dal Spöl. Immer noch Nationalpark, immer noch wilde Bergwelt rundum. Und doch umfängt uns schlagartig eine neue Stimmung. Im Spöl-Tal verläuft die Ofenpassstrasse. Es ist ein sonniges Wochenende, vielleicht die letzte Gelegenheit für einen Motorradausflug über die beliebte Kurvenstrecke des Ofenpasses. Der Motorenlärm von der Strasse durchdringt die Landschaft. Schon nach nur drei Tagen Naturstille ist das ein kleiner Schock. Wir steigen ab, bis wir an der lauten Strasse stehen. Auch wir sind auf sie angewiesen, denn hier nimmt uns das Postauto auf.
Der Strassenlärm ist in der Schweiz die weitaus bedeutendste Lärmquelle. Nach offiziellen Angaben leidet jeder siebte Mensch in der Schweiz an seinem Wohnort unter schädlichem oder lästigem Strassenlärm. Das Problem betrifft, wenig überraschend, vorab das dicht besiedelte Mittelland. Das zeigen die Lärmkarten auf dem Geodatenportal des Bundes eindrücklich. Nicht nur der Verkehr erzeugt das kakofonische Zivilisationskonzert: Bautätigkeit, Schiesslärm, Freizeitrummel, Industrieanlagen und vieles mehr kommen hinzu.
Der Bundesrat hat deshalb 2017 einen «Nationalen Massnahmenplan zur Verringerung der Lärmbelastung» vorgelegt. Doch die Umsetzung hapert. Stattdessen geht der Trend vielerorts immer noch Richtung mehr Lärm. 2020 hat die Coronapandemie das scheinbar unabänderliche Ansteigen des Geräuschpegels allerdings abrupt unterbrochen. Wir haben unverhofft wieder erlebt, wie schön ein Himmel ohne Fluglärm ist. Hunderttausende von Menschen konnten sich vorübergehend von übermässigem Strassenlärm erholen. Umgekehrt brachten Erholungssuchende im Corona-Sommer 2020 viel Lärm und Rummel in einige sonst ruhige Ecken der Schweiz.
Stille, wo bist du?
Wo findet der ruhesuchende Mensch die Stille? Antwort: Das Gute (und Ruhige) kann selbst im Mittelland sehr nah liegen. 2020 legte die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich eine sogenannte «Tranquillity Map» für das Schweizer Mittelland vor. Sie schält immerhin 53 Gebiete heraus, die gemäss Kriterien der Studie eine hohe Ruhequalität aufweisen. Grösser und zahlreicher sind ruhige Gebiete noch im Jurabogen und besonders im Alpenraum. Das zeigt die Wildniskarte, die Fachleute der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Zusammenarbeit mit Pro Natura und Mountain Wilderness jüngst entwickelt haben. Die Karte umfasst naturnahe Gebiete, die besonders dafür geeignet sind, echte Wildnisgebiete zu werden.
Umso störender wirkt es in solchen stillen Gegenden, wenn sie durch Aktivitäten wie Heliskiing, Hobbyfliegerei oder Ausflugsverkehr verlärmt werden. Vergnügen für wenige, Lärm für alle. Es ist offensichtlich: Ruhige Zonen brauchen einen gezielten, rechtlich verbindlichen Schutz vor störendem Lärm.
Ruhige Räume schützen und fördern
Fachkreise sind sich einig, dass Lärm an der Quelle bekämpft werden muss. Wenn also die vorlauteste aller Lärmquellen der Verkehr ist, dann brauchen wir eine deutliche Verkehrsreduktion. Das Verkehrsaufkommen hängt wiederum untrennbar mit der Raumplanung zusammen. Der langjährige Kampf von Pro Natura gegen die Zersiedlung ist damit auch ein Kampf für mehr Ruhe. Unsere im September 2020 eingereichte Landschaftsinitiative zeigt das besonders deutlich. Sie will der schleichenden Überbauung und damit Verlärmung des Nichtbaugebietes einen Riegel schieben.
Auch mit der Kampagne «Wildnis – mehr Freiraum für die Natur!» bricht Pro Natura eine Lanze für stille Zonen, ebenso mit ihren über 700 Naturschutzgebieten oder dem Einsatz für Wildruhezonen. Alle diese Gebiete sind wichtige Inseln der stillen Naturbetrachtung und der Erholung für Mensch und Wildtier.
Doch der planerische Lärmschutz muss über diese oft kleinen Ruhezonen hinausgehen. Beispiel: Eine besonders unzeitgemässe Lärmquelle in den Schweizer Alpen sind immer noch jene 40 Gebirgslandeplätze, wo sich ökologisch Unbedarfte für ihren ohrenbetäubenden Naturgenuss absetzen lassen. Diese Landeplätze, die teilweise sogar in Landschaften von nationaler Bedeutung liegen, gehören endlich ganz aus dem Sachplan Infrastruktur Luftfahrt gestrichen. Das erspart der Natur und den Menschen jährlich weit über 10 000 unsinnige Heliflüge. Die Zeit ist reif dafür.
Rico Kessler ist Redaktor des Pro Natura Magazins.
- Raphael Weber
Weiterführende Informationen
Info
Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
Das Pro Natura Magazin nimmt Sie mit in die Natur. Es berichtet über kleine Wunder, grosse Projekte und spannende Persönlichkeiten. Prächtige Bilder und exklusive Angebote runden das Lesevergnügen ab. Alle Pro Natura Mitglieder erhalten das Magazin exklusiv fünf Mal im Jahr. Es blickt auf 48 Seiten hinter die Kulissen politischer Entscheide, präsentiert Forschungsergebnisse, erklärt die Natur. Und es schildert, wo, wie und warum Pro Natura für die Natur kämpft.