Wald von oben Dominic Tinner
20.03.2023 Wald

Einfach ein Wald

Im Thurgau soll aus einem Nutzwald ein wilder Wald werden – ohne nichts zu tun, geht das allerdings nicht.

Der Burstel ist ein Wald. Aussergewöhnlich scheint hier nichts: Viele Nadel­bäume, ein paar Laubbäume, mehrere Quellen – und an diesem nasskalten Tag Mitte Januar viel Matsch unter einer ­dicken braunen Schicht Herbstlaub. Wie ein Wald im Thurgau halt so ist. Doch hier und da ist schon zu erkennen, was ­Markus Bürgisser sich erhofft. Der Geschäftsführer von Pro Natura Thurgau weist auf ein steiles Stück ziemlich weit oben im Wald. Hier liegen Baumstämme kreuz und quer, wo sie eben gerade hingefallen sind, von Moos begrünt und langsam verrottend. «So wild soll der ­ganze Wald werden.»

Wie Wildnis entsteht

Aus einem Nutzwald einen Urwald zu machen, dass hatte der Biologe nicht von langer Hand geplant. Der Idee liegt ein Zufall zugrunde. «Im Amtsanzeiger las ich 2019 eine kurze Annonce, dass ein Wald zu verkaufen sei, fast 20 Hektaren», erzählt Bürgisser und er wusste einfach: Diesen Wald sollte Pro Natura kaufen. Und es klappte. 

Was aber macht man mit fast 20 Hektaren Wald? «Für mich war klar, dass das Projekt etwas mit Wildnis zu tun haben muss, wobei ich den Nationalpark im Hinterkopf hatte und das Prinzip des ­Prozessschutzes», sagt Markus Bürgisser. Die Begeisterung ist ihm anzuhören, ­während er einen rutschigen Hang hinunterhangelt, um eines der Highlights des Waldes zu zeigen: eine ungefasste Quelle. «So muss das aussehen», sagt er und scheint selber ein bisschen überrascht von der Schönheit des schlichten Ortes. 

Prozessschutz bedeutet vereinfacht gesagt, die Natur einfach Natur sein zu lassen. Sprich: Ein Baum wird nicht gefällt, er altert und stirbt irgendwann ab. Dabei entsteht Totholz, Pilze, Insekten oder Vögel finden neuen Lebensraum. Oder der Wind entwurzelt einen alten Baum, im Sturz reisst er andere Bäume mit und schafft so eine Lücke im Kronendach. Nun erreicht Sonnenlicht den ­Waldboden, neue Pflanzen wachsen und im besonnten Totholz siedeln sich Käfer und Pilze an. Und so weiter. Natürliche Prozesse eben.

Schutzgebiet Burstel
«Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass hier einmal Nichtstun angesagt ist.»
Markus Bürgisser, Geschäftsführer von Pro Natura Thurgau.

Geduld bringt Wildnis

Ein paar Eingriffe gibt es aber noch, ­bevor der Wald einfach Wald sein darf. «Es ­existieren mehrere Wege durch den ­Burstel und einige wollen wir zuwachsen lassen.» Dafür wurden Informationstafeln aufgestellt, um Reiterinnen, Fussgänger und Velofahrer davon abzuhalten, die Wege weiter zu benutzen und ihnen zu erklären, dass dies geschieht, damit diese wieder der natürlichen Entwicklung des Waldes überlassen werden können. Auch sollen gezielt bestimmte Baumarten ­gefördert werden, indem etwa standortsfremde Fichten oder Douglasien gefällt werden, um den natürlich vorkommenden Bäumen Platz zu lassen.

Was genau im Burstel alles getan oder ­gelassen werden soll, hat übrigens nicht Pro Natura allein entschieden. In einer Umfrage konnten Interessierte mitreden. Denn ein so grosses Stück Wald einfach sich selbst zu überlassen und nichts zu machen, sind wir uns Menschen nicht ­gewohnt. Ein spannendes Experiment, dessen Ausgang noch Jahre in der ­Zukunft liegt.

Mittlerweile steht das Konzept für den Burstel, jetzt braucht es vor allem eines: Geduld. «Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass hier für einmal Nichtstun angesagt ist», sagt Markus Bürgisser und inspiziert einen grossen Ast, der auf ­einen Weg gefallen ist – und der dort auch liegen bleiben darf.

Bettina Epper, Redaktionsleiterin, Pro Natura Magazin

Schutzgebiet Burstel
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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