Schafherde im Lauterbrunnental Raphael Weber
08.08.2024 Wolf, Luchs, Bär

Der Wolf und die Biodiversität auf den Schweizer Alpen – eine Einordnung

Welche Tiere gehören in die Alpen? Was sind die Bedrohungen der Alpwirtschaft? Und: Schadet der Wolf der Biodiversität in den Alpen? Die Situation im Alpenraum ist komplex. Pro Natura ordnet ein.

Die Rückkehr des Wolfes in die Schweiz führt insbesondere im Alpenraum zu kontro­versen Debatten. Es wird über Nutztierschäden und Herdenschutz diskutiert und wolfskritische Kreise befeuern eine weitere These: Die Rückkehr des Wolfes schade der Biodiversität in den Alpen, weil sie die Sömmerung von Nutztieren und damit eine der Artenvielfalt förderliche Bewirtschaftung der Alpweiden verunmögliche. Jedoch gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die dies belegen. Pro Natura hält es zudem für kontraproduktiv, einen Aspekt der Biodiversität gegen einen anderen auszuspielen. Wir können nicht den Wolf und seine ökologische Bedeutung gegen extensive Weiden und ihre Flora und Fauna ausspielen. Pro Natura ordnet die komplexe Thematik ein.

1. Der ökologische Wert extensiv bewirtschafteter Wiesen und Weiden ist unbestritten.

Die Alpen waren immer schon ein dynamischer, sich wandelnder Natur- und Kulturraum. Es gibt folglich nicht «die» Kulturlandschaft der Alpen. Die heute noch im Alpenraum bestehenden artenreichen Wiesen- und Weideflächen beispielsweise sind ein winziger Bruchteil der Flächen, die es im 19. Jh. in unserem Land gab. Gleichzeitig sind viele Alpen heute überdüngt, übernutzt und eintönig an Tier- und Pflanzenarten. Es gilt daher, die verbliebenen artenreichen, extensiven Standorte zu erhalten und angepasst zu bewirtschaften. Denn sie sind wichtige Rückzugsgebiete für seltene Tier- und Pflanzenarten.

2. Der Wolf ist Teil der Biodiversität und gehört in die Alpen.

Die Schweiz braucht wieder mehr Flächen mit freier(er) Naturentwicklung, auch in den Alpen, um ihre Biodiversität längerfristig zu sichern. Der Wolf bringt eine wichtige Dynamik in die von (zu) hohen Wildbeständen geprägten Bergwälder zurück und könnte dadurch indirekt die Waldverjüngung fördern. Er ist selbst Teil der einheimischen Artenvielfalt. Die alpinen Wolfsbestände (insbesondere in der Schweiz, Bayern und Österreich) haben aber noch keinen günstigen Erhaltungszustand erreicht, dennoch wird bereits massiv durch Abschüsse in sie eingegriffen. Für die ökologische Rolle, die der Wolf z.B. bei der Waldverjüngung spielt, sind aber jene Wölfe wichtig, die hierzulande leben, und nicht die hohen Wolfsbestände in Rumänien oder Kanada, auf die Wolfsgegner gerne verweisen. Wichtig ist, dass die Schweiz ihren Teil dazu beiträgt, dass eine gesunde Population an Alpenwölfen ihre ökologische Funktion für die hiesigen Wildbestände und Wälder erfüllen kann.

3. Fehlendes Personal, Rentabilität und Infrastruktur sind die grösste Bedrohung für die Alpwirtschaft.

Extensive Sömmerungsweiden haben als Bewirtschaftungsform in den Alpen lange vor der Rückkehr des Wolfes stark abgenommen. Dafür gibt es verschiedene Gründe:

  • Demographischer Wandel (Abwanderung in die Städte, Mobilität und Vielfalt der Arbeitsperspektiven für junge Berufsleute)
  • Preiskonkurrenz globaler Märkte und sinkende Lebensmittelpreise
  • fehlende Fachkräfte und Infrastrukturen (z.B. Hirtenunterkünfte, Brunnen, Wege)
  • Kleinviehhaltung im blossen Nebenerwerb

All dies hat dazu geführt, dass die Beweidung von anspruchsvollen und arbeitsintensiven Flächen, wie sie auf den Alpen vorkommen, nicht mehr rentabel sind und in der Folge aufgegeben werden. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Kleinviehalpen aus vielen Gründen aufgegeben werden, die Wolfspräsenz dabei aber keine massgebliche Rolle spielt (1).

(1) Mink, S., Longinova, D., & Mann, S. (2023): Wolves` contribution to structural change in grazing systems among swiss alpine summer farms: The evidence from causal random forest. In:  Journal of Agricultural Economics, 00, 1-17.

 

4. Beweidung mit Nutztieren ist nicht generell gut für die Biodiversität.

Nicht jede Form der Beweidung ist gut für die Biodiversität. Damit die Beweidung einer Fläche für die Biodiversität Vorteile bringt, müssen verschiedene Faktoren stimmen:

  • Art und Rasse der Nutztiere in Bezug zu umwelträumlichen Faktoren (Hangneigung, Boden, Klima, Pflegeziele)
  • Anzahl Nutztiere pro Fläche
  • Beweidung über oder unter der Waldgrenze
  • Dauer der Beweidung sowie Herdenführung

Nur wenige Schafrassen eignen sich beispielsweise, um einwachsendes Gehölz einzudämmen. Um eine gleichmässige Nutzung der Fläche zu gewährleisten, müssen Schafe regelmässig die Koppel wechseln. Oberhalb der Waldgrenze, wo die Mehrzahl der Schafe gesömmert wird, gibt es keinen einwachsenden Wald, den es durch die Beweidung zurückzuhalten gälte. Wo Nutztierherden weiden, ist oft kaum noch Platz oder Nahrung für Gämsen, Steinböcke oder Hirsche. Zudem können Krankheiten von Nutz- auf Wildtiere überspringen. Damit sie nicht in den Wald oder auf Moränen steigen und Wildtiere verdrängen, müssen die Herden beaufsichtigt werden.

5. Wiederbewaldung ist nicht generell schlecht für die Biodiversität.

Gebirgswälder sind nicht per se «dicht und artenarm» oder ökologisch weniger wert als extensive Weiden. Je nach Entwicklungsstadium weisen Wälder unterschiedliche Artenzusammensetzungen auf und gehen durch Stadien mit mehr oder weniger Biodiversität. Es gilt zudem, den Blick für das ganze Spektrum der Artenvielfalt zu öffnen (inkl. Bodenlebewesen, Pilze) und nicht nur mit einigen wenigen, liebgewonnenen emblematischen Arten des Naturschutzes zu argumentieren. Regionale Gesamtkonzepte für die Sömmerung könnten beim Entscheid helfen, welche Alpen vorrangig erhalten werden sollen und in welchen Gebieten eine Nutzungsaufgabe und Wiederbewaldung toleriert werden kann. Nur leider hinkt diese Gesamtplanung in den Kantonen hinterher.

Wie Untersuchungen im Schweizerischen Nationalpark gezeigt haben, übernehmen insbesondere Rothirsche durch ihr Weideverhalten die Funktion von Nutztieren und halten artenreiche Flächen frei.

6. Für punktuelle Zielkonflikte gibt es Lösungsansätze.

Ein potenzieller Zielkonflikt zwischen extensiven Naturschutzweiden und der Rückkehr des Wolfes besteht auf einigen wenigen, lokal begrenzten Flächen. Nämlich auf kleinen, steilen Bergweiden unterhalb der Waldgrenze, die teilweise schwierig zu schützen sind. Es ist nicht zulässig, die Interessenkonflikte in diesen sehr spezifischen Situationen auf das gesamte Sömmerungsgebiet zu übertragen. Zum Schutz und Erhalt von Naturschutzweiden und Waldweiden unterhalb der Waldgrenze müssen Lösungen für eine Fortführung der Beweidung trotz Wolfspräsenz gefunden werden. Denkbar wäre z.B. eine Ausweitung von Zivildiensteinsätzen im Herdenschutz auch ausserhalb der Sömmerungsgebiete, mit einem eigenen Pflichtenheft für die Herdenschutz-Unterstützung und die Landschaftspflege auf Naturschutz- und Waldweiden, menschliche Nachtwachen (Freiwilligen-Projekte wie OPPAL), der Einsatz von leichten, behornten Robustrassen (Rinder) mit intaktem Feindabwehr-Verhalten oder sogenannter «Turbo-Fladry» (elektrifizierte Lappenzäune).     

7. Herdenschutz funktioniert. Nutztierhaltende sollen dabei bestmöglich un­terstützt werden.

Herdenschutz ist das A und O der Nachbarschaft mit dem Wolf – und funktioniert sehr gut, wie die kontinuierlich abnehmenden Risszahlen pro Wolf in der Schweiz und der Vergleich mit ungeschützten Herden zeigen. Einen hundertprozentigen Schutz gibt es auch hier nicht – die Reduktion der Risse ist jedoch wirtschaftlich wie psychologisch be­deutend.

Sämtliche Expert:innen und wissenschaftlichen Untersuchungen sind sich einig, dass Herdenschutz zufriedenstellend wirkt und unverzichtbar ist, selbst wenn Wölfe reguliert werden. Herdenschutz in den Alpen ist keine Frage der technischen Machbarkeit oder Finanzierung (mehr), sondern vor allem des zumutbaren Arbeitsaufwands. Bund und Kantone (Finanzierung, Beratung, Weiterentwicklung Herdenschutz) als auch Zivilgesellschaft (Freiwilligeneinsätze, Zivildienstleistende) sind aufgerufen, ihren Beitrag zur Unterstützung der Älpler:innen zu leisten, zum Beispiel  auch durch angepasstes Verhalten bei Freizeitaktivitäten in den Bergen bei Präsenz von Herdenschutzhunden.

8. Wolfsfreie Zonen im Alpenraum sind unrealistisch.

Das ökologisch fragwürdige Wolfsmanagement mittels «wolfsfreier Zonen» (schön­färberisch «Weideschutzgebiete» genannt) wie es in Schweden oder Norwegen zum Schutz der Rentierhaltung praktiziert wird, ist keine Lösung für den Umgang mit dem Wolf in den kleinräumigen Alpenländern. Es bestehen gar nicht die nötigen Flächen, um Viehwirtschaft und gesunde Wolfsbestände räumlich voneinander zu trennen. Zudem ist es angesichts der Tatsache, dass die Schweiz von Ländern mit wachsenden Wolfsbeständen umgeben ist, illusorisch zu denken, «wolfsfreie» Gebiete könnten mit verhältnismässigem Aufwand gesichert werden. Auch in den wolfsfreien Zonen würde es ohne Herdenschutz zu regelmässigen und in Einzelfällen zu massiven Rissen von Nutztieren durch Einzelwölfe kommen. Der Wolf als raumgreifende Art kann nicht in einigen kleinflächigen Schutzgebieten überleben – zum Erhalt der Art führt kein Weg an einem Nebeneinander in der Kulturlandschaft vorbei.

9. Das Jagdrecht lässt heute schon weitgehende Eingriffe in den Wolfsbestand zu.

Trotz Schutzstatus können Wölfe in der Schweiz und Frankreich bereits heute reguliert werden, und auch in Deutschland und Österreich wurden die Schwellen für Abschüsse schadenstiftender Tiere deutlich gesenkt. In der Schweiz und Frankreich sind legale Abschüsse die häufigste Todesursache für Wölfe. Rund 20 Prozent des Bestands werden in Frankreich jährlich «entnommen». Das ist viel für eine eigentlich geschützte Tierart. Bei Angriffen auf Rinder oder Pferde besteht in der Schweiz sogar Nulltoleranz – bereits ein verletztes Tier reicht für den Abschuss des Wolfes, ohne dass Herdenschutzmassnahmen vorausgesetzt werden. Seit 2023 ist in der Schweiz auch das proaktive Regulieren von Wölfen erlaubt, sofern dies in plausiblem Zusammenhang mit einem grossen Schadenspotenzial steht.

10. Nur bei flächig umgesetztem Herdenschutz kann Wolfsregulierung ein Beitrag zur Koexistenz sein

Fraglos ist eine Regulierung der Wolfsbestände in der alpinen Kul­turlandschaft notwendig, um einen Ausgleich zwischen den Interessen der Landwirtschaft und des Artenschutzes herzustellen, die Zunahme der Wolfsbestände zu bremsen und den vom Wolf direkt Betroffenen eine zusätzliche Handhabe zu geben, dort wo der Herdenschutz wiederholt versagt. Man darf sich von der Regulierung aber keine Wunder erhoffen, was den Rückgang von Nutztierrissen betrifft. Die Wolfsregulierung wird am ehesten dann zur Reduktion von Schäden beitragen können, wenn zugleich der Herdenschutz flächig umgesetzt ist. Denn auch ein einzelner Wolf kann in ungeschützten Herden grosse Schäden anrichten.

Der Wolf als Chance für die Biodiversität und die Alpen

Der Wolf ist in vom Menschen stark geformten Kulturlandschaften wie jenen der Alpen eine Herausforderung, das ist unbestritten. Ein Nebeneinander ist jedoch möglich. Dies zeigt die Realität in vielen europäischen Ländern, wo der Wolf nie verschwunden ist. In der Schweiz muss sich dieses Nebeneinander aber erst einspielen. Dabei kommen wir als Gesellschaft nur weiter, wenn wir die Koexistenz mit dem Wolf als Aufforderung zur Zusammenarbeit verstehen: Gemeinsam lernen, Lösungen suchen und umsetzen, heisst die Devise.

Weder die Berglandwirtschaft noch die Biodiversität der Alpen sind durch die Rückkehr des Wolfs dem Untergang geweiht. Es ist wichtig, in der Herausforderung auch die Chancen zu sehen:

  • das ökologische Potential des Wolfes im Wald-Wild Kontext
  • die gesellschaftlichen Chancen der Zusammenarbeit und Solidarität zwischen Stadt und Land
  • die Verbesserung der Tierhaltung im Sömmerungsgebiet

Unbestritten ist, dass die Berggebiete bei den zahlreichen Herausforderungen, vor denen sie aufgrund Klimaerwärmung, Strukturwandel oder Wolf stehen, auf nationale Solidarität und Unterstützung angewiesen sind und dass ihre Expertise einen hohen Stellenwert bei jeglicher Lösungsfindung haben muss.

Wolf im Wald Betyarlaca | iStock

Wolf und Alpwirtschaft: Pro Natura geht mit konkreten Projekte voran

Wolf hin oder her, es werden auch in Zukunft nicht sämtliche Weideflächen in den topographisch besonders schwierigen oder entlegenen Alpgebieten kontinuierlich beweidet werden können. Die Aufgabe von gewissen Flächen und die Rücknahme durch die «Wildnis» dürfen kein Tabu sein – ebenso wenig, wie die Regulierung des Wolfsbestands.

Pro Natura wird sich weiterhin mit konkreten Projekten politisch und kommunikativ für die Lösungsfindung im Umgang mit dem Wolf einsetzen, zum Beispiel:

  • Wir erarbeiten konkrete Strategien, mit denen die extensive Beweidung in der oberen Bergzone aufrecht erhalten bleibt. Diese ist ökologisch besonders wertvoll.
  • Wir bieten Herdenschutz-Exkursionen an, um das Wissen über sichere Begegnungen mit Schutzhunden zu verbreiten.
  • Wir werden auch künftig Freiwilligenprojekte wie Pasturs Voluntaris (Webseite) oder OPPAL (Webseite) unterstützen. Solche Projekte entlasten die Älpler:innen in ihrem herausfordernden Alltag mit dem Wolf als Nachbarn.

Herdenschutzhund Razvan | iStock