Waldbrandfläche oberhalb von Verdasio/TI Matthias Sorg
17.10.2018 Klimakrise

Kontrolle abgeben, beobachten und staunen

Als Konsequenz des Klimawandels nehmen Naturereignisse zu. Bis zu einem gewissen Grad können diese für die Natur positive Folgen haben — an einem griffigen Klimaschutz muss aber festgehalten werden.

Kürzlich auf einer Wanderung im Aletschgebiet offenbart der Blick auf den Gletscher auch einen Hang, der ins Rutschen geraten ist. Wie ein Fächer öffnen sich die senkrechten Steinschichten, und die Arven strecken ihre Kronen in alle Himmelsrichtungen. Etwas später erfahre ich, dass der Wald in einem Naturwaldreservat im Misox brennt. Und auch so spät im Jahr lese ich immer wieder Nachrichten über das Ausmass des Windwurfs durch die Stürme Burglind und Frederike im vergangenen Winter.

Solche und weitere Naturereignisse sind bei uns immer wieder aufgetreten. Sie gehören zum natürlichen Kreislauf und gestalten die Natur. Doch der Klimawandel kann solche Naturereignisse verstärken und dazu führen, dass sie häufiger eintreten. Grössere Trockenheit, wie wir sie diesen Sommer erlebt haben, erhöht beispielsweise die Waldbrandgefahr. Starkniederschläge, wie sie in der Schweiz seit der Jahrtausendwende überdurchschnittlich oft und heftig registriert worden sind, können Überschwemmungen oder Erdrutsche auslösen. Der Gletscherschwund und der Rückgang des Permafrosts, beides offensichtliche Folgen der Erwärmung unseres Klimas, setzen ganze Gebirgsmassen in Bewegung.

Es ist der Mensch, der das Klima zerstört. Pro Natura bekämpft diesen Prozess entschieden und engagiert sich national und international für eine wirksame Klimapolitik, die den viel zu hohen CO2-Ausstoss markant senken muss. Doch der Wandel des Klimas ist längst im Gang, die zunehmenden Naturereignisse sind Zeugen dieser Entwicklung, und deshalb stellt sich für den Naturschutz die Frage, wie mit den Folgen dieser Ereignisse umzugehen ist.

«Störungen» schaffen Lebensräume

Natürliche Dynamik wird häufig ausschliesslich als Zerstörung wahrgenommen und als Schaden bezeichnet. Doch: Diese «Störungen» schaffen auch neue Lebensräume und Strukturen, wie sie in der Schweiz selten sind; beispielsweise Ruderalflächen und Pionierwälder. Gewisse Arten sind für ihr Überleben sogar auf diese Dynamik angewiesen.

Weil in unseren vom Menschen gestalteten und genutzten Landschaften die natürliche Dynamik nur noch sehr begrenzt vorhanden ist, wird im Naturschutz mitunter versucht, diese fehlende Dynamik künstlich nachzuahmen: So führt etwa das ­ Ringeln von Bäumen zu einem grösseren Totholzangebot, das Lebensraum für unzählige holzbewohnende Käfer bietet. Oder das punktuelle Abtragen von Humus schafft offene Rohböden, die von spezialisierten Arten wieder besiedelt werden.

Flächen mit natürlicher Entwicklung dienen auch als Genreservoir sowie als Rückzugsort und Ausbreitungsquelle spezialisierter Arten. Ebenso leisten sie einen Beitrag zur Wissenschaft, indem wir die natürliche Entwicklung beobachten und daraus Lehren ziehen, zum Beispiel für eine effiziente und nachhaltige Waldbewirtschaftung. Und sie ermöglichen es uns, die Beziehung des Menschen zur Natur zu stärken und eine direkte Naturerfahrung zu machen. So etwa auch im grössten Naturraum der Schweiz, in dem diese natürliche Dynamik zugelassen wird: dem Schweizerischen Nationalpark.

Lawinenniedergang im Schweizer Nationalpark bringt Dynamik in die Naturentwicklung Matthias Sorg
Lawinenniedergang im Schweizer Nationalpark bringt Dynamik in die Naturentwicklung.

Unerwartete Regenerationskraft

Erfahrungen aus vergangenen grossen Naturereignissen haben gezeigt, dass diese einige Überraschungen bereithalten können. Nach den grossflächigen Windwürfen durch den Sturm Lothar
im Winter 1999 wurde beobachtet, dass auf fast allen offenen Flächen wieder junger Wald aufwächst. Beim Waldbrand in Leuk von 2003 verbrannten auf einem grossen Teil der Fläche sowohl die Bodenvegetation als auch die Baumkronen. Bereits nach wenigen Jahren war die Fläche durch Krautpflanzen und Baumkeimlinge wieder besiedelt. Mit der Zeit sind nach den rasch wachsenden Pionierpflanzen aber auch die vorher häufigen Eichen und Föhren wieder zurückgekommen. Die Natur zeigte in diesen Fällen eine unerwartete Regenerationskraft.

Das Zulassen von natürlicher Dynamik darf selbstverständlich aber nicht zu einer menschlichen Gefährdung führen. Entscheidend ist es auch, solche Flächen als einen weiteren Beitrag für mehr natürliche Vielfalt zu betrachten. Es ist kein Entweder- oder zum traditionellen Kulturlandschaftsschutz. Beide Ansätze – sowohl gezielte Naturschutzmassnahmen als auch das Zulassen von natürlicher Dynamik – sind in unseren, vom Menschen geprägten Landschaften wichtig für eine vielfältige Natur. Auch Pro Natura führt in der Mehrzahl ihrer knapp 700 Naturschutzgebiete notwendige Pflegemassnahmen durch. In mehreren, vorwiegend grossräumigen Schutzgebieten kann sich die Natur aber frei entwickeln.

Murgang unterhalb des Lukmanierpasses Matthias Sorg
Murgang unterhalb des Lukmanierpasses.

Unerwünschte Folgen sind möglich

Das Zulassen der natürlichen Entwicklung auf bestimmten Flächen – ob gross- oder kleinräumig, langfristig oder temporär, in abgelegenen oder gut erschlossenen Gebieten – kann auch unerwünschte Folgen haben. Neobiota können sich ansiedeln und von dort weiter ausbreiten, oder es entstehen ungewollte Schäden an Infrastruktur. In der kleinräumigen und sehr gut erschlossenen Schweiz kann es auch rasch zu Konkurrenz mit anderen Ansprüchen an diese Flächen kommen.

Und: Natürliche Extremereignisse dürfen auch nicht Überhand nehmen und zu häufig auftreten. Denn Extremereignisse haben nur bis zu einem gewissen Grad eine positive Wirkung auf die Natur.

Positiv nur bis zu einem gewissen Grad

Treten diese zu häufig auf, kann sich die Natur nicht mehr regenerieren. An vielen Orten der Welt lassen sich die tragischen Konsequenzen dieser Entwicklung bereits feststellen. Dürren, Stürme oder Überschwemmungen haben schon ganze Landstriche unbewohnbar gemacht und zu grossen Flüchtlingsströmen geführt. An einer griffigen Klimapolitik ist deshalb unbedingt festzuhalten. Auf nationaler Ebene sind die Naturschutzverbände jetzt gefordert, sich mit den Folgen von Naturereignissen auseinanderzusetzen. Natürliche Dynamik ist als Konzept im Naturschutz schwieriger zu akzeptieren und auch zu erklären, weil es ergebnisoffen ist und die Entwicklung nicht direkt gesteuert werden kann. Es fällt uns scheinbar schwer, das Steuer loszulassen. Ob das so ist, weil es uns nutzlos fühlen lässt und uns die fehlende Kontrolle vielleicht sogar Angst macht? Mit Geduld und Offenheit können wir uns darauf einlassen, eine unbekannte Entwicklung abzuwarten. Uns überraschen lassen. Und vielleicht lässt uns das, was wir dann beobachten können, still werden und staunen.

LESLY HELBLING ist bei Pro Natura Projektleiterin für Schutzgebiete und Waldreservate.

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

Das Pro Natura Magazin nimmt Sie mit in die Natur. Es berichtet über kleine Wunder, grosse Projekte und spannende Persönlichkeiten. Es blickt hinter die Kulissen politischer Entscheide und schildert, wo, wie und warum Pro Natura für die Natur kämpft. Als Mitglied erhalten Sie das Magazin fünf mal im Jahr direkt in Ihren Briefkasten.