Auslegeordnung rund um den Wolf
Die Schweiz ist kein traditionelles Schafland
Die Schweiz ist ein traditionelles Rindvieh-Land mit heute rund 1,5 Millionen Rindern (gemäss Tierverkehrsdatenbank). Schafe sind schweizweit rund 420’000 Tiere gemeldet. Die Schafhaltung in der Schweiz steht also eindeutig im Schatten der Rindviehhaltung.
Die meisten Schafbestände haben eher Hobby-Charakter. Richtig professionelle Betriebe mit 100 und mehr Mutterschafen, die einen namhaften Anteil des Haushaltseinkommens aus der Schafhaltung erwirtschaften, sind in der Schweiz dünn gesät. Dass überhaupt so viele Schafe und Ziegen in der Schweiz gehalten werden, ist ein junges Phänomen, genauso wie der freie Weidegang. In anderen Ländern Europas ist die ständige Behirtung mit Treib- und Herdenschutzhunden bewährter Alltag und eine jahrhundertealte Tradition.
Die Rückkehr des Wolfes erfordert bei uns ein Umdenken. Dies sollte als Chance gesehen werden, denn eine stärkere Betreuung der Schafe oder gar deren ständige Behirtung fördert auch die Gesundheit der Tiere, da Verletzungen und Krankheiten viel früher entdeckt werden.
- Matthias Sorg
Polemik um den Herdenschutz
Herdenschutz ist komplex und Patentrezepte gibt es keine. Erfahrungen etwa aus Italien zeigen aber: Herdenschutz reduziert die Wolfsschäden erheblich, wenn er vor der Rückkehr des Wolfes etabliert ist. In der Schweiz traf der Wolf bei seiner Rückkehr auf mehrheitlich ungeschützte Schafherden. Dass dies zu einer Prägung des Wolfes auf leicht zugängliche Nutztiere führen kann und damit den Herdenschutz erschwert, zeigt sich jetzt deutlich. Noch immer weiden rund die Hälfte aller gesömmerten Schafe ungeschützt auf unseren Alpen. Leidtragende sind Schafe und Wölfe, die ausbaden müssen, was der Mensch versäumt hat. In der Umsetzung des Herdenschutzes besteht auf kantonaler Ebene noch ein grosses Potential.
Die aktuelle KORA Studie «Wirksamkeit von Herdenschutzmassnahmen und Wolfsabschüssen unter Berücksichtigung räumlicher und biologischer Faktoren» konnte zeigen, dass die bisher in der Schweiz angewendeten Management-Massnahmen (Herdenschutzhunde, Abschüsse von schadensstiftenden Einzelwölfen) wirken.
- Federica Giusti on Unsplash
Existenzrecht der Wildtiere und Gefährdung durch Nutztiere
Wer hat eine Daseinsberechtigung in den Alpen? Gehören sie ausschliesslich der Landwirtschaft und ihren Nutztieren? Welches Recht auf Lebensraum und Nahrung haben die dort lebenden Wildtiere? Zum Beispiel Gämsen, Hirsche und Steinböcke, für welche die vielen gesömmerten Nutztiere auch Nahrungskonkurrenten sind und manchmal sogar Überträger von für sie tödlich verlaufenden Krankheiten.
In diesem Zusammenhang braucht es eine offene Diskussion, ob eine «nicht schützbar» deklarierte Alp nicht besser aufgegeben und so den Wildtieren wieder als Lebensraum zurückgegeben werden kann.
- Lorenz Fischer
Sind Schafe automatisch gut für die Biodiversität?
Die Behauptung steht im Raum, dass Schafe und Ziegen die Biodiversität fördern. Das mag teilweise in den unteren Lagen stimmen, wo steile Gebiete dem Druck von aufwachsenden Büschen ausgesetzt sind. Ganz anders sieht es aber oberhalb der Baumgrenze aus. Hier führt die Beweidung mit Schafen oft zu einem Biodiversitätsverlust.
Erforscht wurde dies auf der Muttenalp im Kanton Glarus. Während mehr als zehn Jahren seit der Aufgabe der Schafbeweidung wurden die Veränderungen bei Flora und Fauna dokumentiert. Heute haben sich die Bestände vieler Wildpflanzen erholt und die Anzahl vorkommender Schmetterlinge ist gewachsen. Die Aufgabe der Schafbeweidung war also ein Gewinn für die Biodiversität.
- Benoît Renevey
Andere Todesursachen werden in Kauf genommen
Seit Schafe ganze Sommer lang unbehirtet durch die Schweizer Alpen streifen, wird als Kollateralschaden in Kauf genommen, dass unzählige Tiere jedes Jahr durch Absturz, Steinschlag, Blitzschlag, Krankheit oder Verlust den Tod finden. Konkret sterben zwischen 4’000 bis 6’000 Alpschafe während der Sömmerung.
Daneben ist ein weiteres wenig betrachtetes Problem aufzugreifen. Die Bauernzeitung titelte 2020: «Parasiten verursachen mehr tote Nutztiere als der Wolf, keine Zahlen für Littering». Die Zeitung führte aus: «Die verzeichneten Todesfälle bei Schafen in der Sömmerung sind zu etwa 10% Grossraubtier-Angriffen geschuldet. Deutlich grösser ist die Zahl der Abgänge, die unter anderem durch weitaus kleinere «Raubtiere» verursacht werden. Speziell der Parasitenbefall ist bei den Schafen ein Problem. Das Tier, welches für die Wiederkäuer eine erheblich grössere Gefahr darstellt, ist also weitaus kleiner als gedacht.»
Wie gefährlich ist der Wolf für uns Menschen?
Zu guter Letzt noch ein paar Gedanken zur hochstilisierten Gefährlichkeit des Wolfes. Es gibt drei hauptsächliche Gründe, die den Wolf für den Menschen gefährlich machen können. Der wichtigste ist die Tollwut, der zweite ist Mangel an natürlicher Nahrung. Beide sind bei uns nicht mehr gegeben. Der dritte Grund ist aktive oder passive Anfütterung. Heisst, wenn ein Wolf Nahrung mit dem Menschen verbindet und es bei Annäherungen zu Beissunfällen kommen kann. Es ist an uns, dafür zu sorgen, dass dies nicht passiert. Zum Beispiel mit der Aufhebung von Luderplätzen, an denen mit ausgelegtem Fleisch, fleischfressende Wildtiere angelockt werden sollen. Sowie auch mit der fachgerechten Entsorgung von Nachgeburten aus Weiden und Ställen oder dem Verzicht darauf, den Kehrichtsack mit Essensresten bereits am Vorabend der Müllabfuhr vor die Türe zu stellen.
- Matthias Sorg
Ehrlichkeit und umfassende Betrachtung ist angesagt beim Thema Wolf – nicht Polemik
Die Umweltverbände haben zusammen mit dem Schweizer Bauernverband, dem Alpwirtschaftlichen Verband, der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für das Berggebiet und anderen gezeigt, dass sie zum Dialog bereit sind und sich auf nationaler Ebene in einem für alle tragbaren politischen Konsens finden können.
Die kantonalen Bauernverbände kümmert das offensichtlich nicht, sie halten an ihrer einseitigen Polemik fest. Ein konfliktarmes Zusammenleben mit dem Wolf, der unbestrittenermassen seinen natürlichen Lebensraum bei uns hat, ist möglich. Es braucht jedoch den Willen von allen.
- Matthias Sorg