Wölfe in der Schweiz: Die Lösungen sind bekannt, jetzt ist die Politik gefragt
In der Praxis, in den Kantonen und bei den Verbänden hat man zum Umgang mit dem Wolf in der Schweiz in den letzten Jahren viel gelernt. Es ist jetzt an der Politik und den Behörden, einen guten gesetzlichen Kompromiss zu erarbeiten und unbürokratische Hilfe anzubieten. Die Zukunft gehört der Zusammenarbeit. Pro Natura gibt einen Überblick: Was passiert aktuell in der Politik? Welche Mittel stehen Landwirtschaftsbetrieben bereits zur Verfügung? Was meinen die Umweltschutzorganisationen?
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Bund und Kanton
Auf der Alp
Umweltverbände und Interessenvertreter/-innen
FAQ: Oft gestellte Fragen zum Wolf
Bei Bund und Kanton: mehr Finanzen für den Herdenschutz
Die fachliche und finanzielle Unterstützung der Tierhaltenden durch Bund, Kantone (und Verbände) ist breit gefächert und wird weiter ausgebaut:
- Bund hat Schadenschwellen gesenkt
Die Schadenschwelle, ab welcher Wolfsrudel reguliert oder Einzelwölfe erlegt werden können, wurde mit einer Anpassung der Jagdverordnung bereits im Juli 2021 von 15 auf 10 Nutztierrisse (resp. zwei Stück Grossvieh) abgesenkt. Neu können zudem auch schadenstiftende Leittiere eines Rudels erlegt werden. - Bund erhöht finanzielle Unterstützung für Herdenschutz
Der Bund hat für den Sommer 2022 zusätzlich insgesamt CHF 5.7 Mio. für Sofortmassnahmen im Herdenschutz bewilligt. Damit kann bspw. Hilfspersonal finanziert oder die Anschaffung einer mobilen Hirtenunterkunft für entlegene Alpen unterstützt werden. Die Alpbetreiber können jetzt Gesuche bei den Kantonen einreichen.
Auch das reguläre Herdenschutz-Budget des BAFUs wurde 2021 von CHF 2.9 Mio. auf CHF 3.7 Mio. aufgestockt.
- Sara Wehrli
- Kantone erhöhen ihre Herdenschutzbeiträge
Einige Kantone haben, in Reaktion auf die finanziellen Sofortmassnahmen des Bundes für 2022, ihre diesjährigen Beiträge an den Herdenschutz bereits erhöht. Graubünden (zusätzlich CHF 400’000) und das Wallis (zusätzlich CHF 1 Mio.) gehen mit gutem Beispiel voran. Weitere Kantone werden folgen. - Entschädigungszahlungen für gerissene Nutztiere
Bund und Kantone teilen sich die Kosten, die durch Wolfsrisse an Nutztieren entstehen, nach dem 80/20-Prozentschlüssel. Jährlich werden Entschädigungszahlungen in der Höhe von ca. CHF 0.3 Mio. entrichtet. - BAFU erarbeitet Leitlinie zur Beurteilung der Schützbarkeit der Alpen
Diese Leitlinie soll den Kantonen helfen, ihre Schafalpen anhand von einheitlich definierten Kriterien als schützbar oder unschützbar einzustufen. Diese Einstufung ist entscheidend, wenn es darum geht, Wolfsrisse einer Abschussbewilligung anzurechnen. Die Leitlinie soll noch diesen Sommer publiziert werden.
Auf der Alp: Beratung und praktische Unterstützung
Der Herdenschutz wird langsam, aber sicher zur Selbstverständlichkeit und erhält auch aus der Bevölkerung Unterstützung. Die Arbeit der engagierten Hirtinnen und Hirten ist enorm und wo nötig werden Eingriffe in den Wolfsbestand bewilligt.
- Herdenschutzberatung durch die Kantone
Die Kantone beraten Nutztierhaltende bei der Planung geeigneter Herdenschutzmassnahmen und bei deren konkreter Realisierung. Verantwortlich dafür sind die kantonalen Herdenschutzberatungen. - Unterstützung für Hirten
Mit Projekten wie «Pasturs Voluntaris» und «Oppal» werden Freiwillige ausgebildet, um die Hirtenschaft zu entlasten. Sie leisten kurzfriste aber auch wochenlange Einsätze und Nachtwachen auf den Alpen.
Pasturs Voluntaris
OPPAL - Organisation Pour la Protection des Alpages
- Unterstützung für Herdenschutzmassnahmen
Seit etlichen Jahren unterstützen die Umweltverbände (CHWolf, Gruppe Wolf Schweiz, Pro Natura, WWF Schweiz) Herdenschutzprojekte auf diversen Alpen finanziell. Auch weiterhin können Anfragen in Härtefällen an uns gerichtet werden, um Finanzierungslücken, die von den Bundes- bzw. Kantonsgeldern noch nicht abgedeckt sind, unbürokratisch zu überbrücken. - Abschussbewilligungen: Wölfe mit problematischem Verhalten werden schon heute rasch erlegt
In den vergangenen zwölf Monaten (Juli 21-22) wurden zwölf Wölfe geschossen und in keinem Fall gab es eine Beschwerde durch Umweltverbände. Das zeigt, dass gezielte Eingriffe in den Wolfsbestand schon heute möglich sind und realisiert werden.
- Sara Wehrli
Umweltverbände: Gesetzesvorschlag für ein konfliktarmes Zusammenleben mit dem Wolf
Auf politischer Ebene findet seit 2021 ein konstruktiver Dialog zwischen Naturschutz-, Landwirtschafts-, Forst- und Jagdverbänden statt. Daraus haben sich gegenseitiges Verständnis, gemeinsames Lernen sowie ein breit getragener, praxisnaher Vorschlag für eine rasche und wirksame Jagdgesetz-Revision ergeben.
- Konstruktiver Dialog: Naturschutz-, Landwirtschafts-, Forst- und Jagdverbände haben eine gemeinsame Haltung bezüglich Abschussverfügungen entwickelt und kommunizieren diese gegenüber dem Bundesamt für Umwelt und den Kantonen. Sie erwarten von den Behörden die Einhaltung kurzer Fristen bis zum allfälligen Regulierungs- bzw. Abschussentscheid. Die Naturschutzverbände werden von ihrem Verbandsbeschwerderecht im Fall von Wolfsabschüssen nur zurückhaltend Gebrauch machen. In einem erweiterten Kreis tauschen sich die Organisationen auch über ihre Erfahrungen aus der Sömmerungssaison aus und lernen so von- und miteinander.
- Ein schlanker Gesetzesvorschlag der direktbetroffenen Organisationen:
Seit Sommer 2021 trafen sich Vertreter/-innen der Naturschutz-, Landwirtschafts-, Forst- und Jagdverbände regelmässig, um eine mehrheitsfähige Jagdgesetzrevision aufzugleisen. So wurde ein neuer, «pfannenfertiger» Gesetzesvorschlag entwickelt, hinter dem alle betroffenen Organisationen stehen. Dieser Vorschlag sieht ein integratives Wolfsmanagement vor:- Die regionalen Wolfsbestände bleiben geschützt.
- Die Rolle des Wolfes im Ökosystem wird bei Regulierungen mitberücksichtigt.
- Abschüsse sind neu auch präventiv, bei wahrscheinlichen zukünftigen, wesentlichen Schäden und zeitnah möglich.
- Der Herdenschutz wird neu vollständig abgegolten.
FAQ: Oft gestellte Fragen zum Wolf
90% der Risse passieren in ungeschützten Herden. Herdenschutz verhindert nachweislich die meisten Schäden. Auch dass die Zahl gerissener Tiere pro Wolf in der Schweiz rückläufig ist, zeigt, dass die Herdenschutzmassnahmen zunehmend greifen. Gemäss einer Meta-Studie* senkt Herdenschutz mit Zäunen oder Hunden das relative Schadenrisiko um 50 bis fast 100 Prozent. Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Herdenschutz ist in dieser Hinsicht wie der Sicherheitsgurt beim Autofahren: dass es weiterhin Verkehrstote gibt, heisst nicht, dass der Sicherheitsgurt nicht wirkt oder man auf ihn verzichten sollte. Erfolgsmeldungen diesbezüglich schaffen es aber leider kaum in die Medien. Über Wölfe, die keine Schafe reissen und Fälle, in denen Herdenschutzmassnahmen, Schafrisse verhindert haben, lesen wir nichts.
* (Bruns, A. et al. (2020): The effectiveness of livestock protection measures against wolves. In: Global Ecology and Conservation 21 (2020).
Im Sinne des Tierschutzes müssen Tierhalter/-innen die Verantwortung für ihre Tiere wahrnehmen, sie artgerecht halten und bestmöglich vor Schaden schützen. Auf weitläufigen, ungeschützten Alpen werden Unfälle und Krankheiten der Nutztiere oft erst spät entdeckt. Aufgrund der Grösse oder des Geländes kann es sein, dass der Herdenschutz auf solchen Alpen nicht zumutbar ist, wobei entsprechende Bewertungen in den meisten Kantonen erst in Erarbeitung sind. Schafe müssen den Sommer deswegen nicht im Stall verbringen, aber es müssen allenfalls Lösungen auf anderen Alpen, mit Herdenzusammenlegungen oder Strukturanpassungen gefunden werden.
Im Kanton Uri beispielsweise analysiert die Korporation Urseren zurzeit (2022) ob einzelne Kuhweiden zu Schafweiden umfunktioniert werden könnten, die dann leichter zu schützen wären. Im Walliser Turtmanntal haben die dortigen Schwarznasenschaf-Züchter ihre kleinen Herden zusammengelegt und bringen sie neu gemeinsam auf eine grössere Alp, die besser geschützt werden kann. Solche Lösungen führen dazu, dass Nutztiere besser geschützt sind, der Wolf seine Rolle als Regulator des Rotwilds einnimmt und Alpen effizienter bewirtschaftet werden.
Nicht jeder Wolf, der einem Menschen begegnet, ist automatisch gefährlich.
Es gehört zum normalen Verhalten der Wölfe, dass sie gelegentlich auch tagsüber in Sichtweite von bewohnten Gebäuden entlanglaufen, nachts dann und wann Dörfer durchqueren oder am Dorfrand nach Nahrung suchen. Die Erfahrung zeigt, dass ein solches Verhalten in der Regel keine Gefährdung des Menschen darstellt. Wir müssen lernen, das Verhalten von Wölfen richtig einzuschätzen und jene Individuen zu erkennen, die tatsächlich ein Risiko darstellen.
Im Yellowstone-Nationalpark, der jährlich von Millionen Touristen besucht wird, wo sich die Wildtiere an die Menschen gewöhnt haben und es immer wieder Nahbegegnungen zwischen Mensch und Wolf gibt, ist es noch nie zu einem Angriff auf Menschen gekommen. In den letzten 20 Jahren gab es in ganz Nordamerika und Europa zwölf Bissverletzungen und zwei tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen (meist von angefütterten oder gejagten Tieren).
Mutterkühe oder Haushunde sind bezüglich Verletzungen und Todesfälle um ein Vielfaches gefährlicher als Wölfe. Allein in der Schweiz kommt es praktisch jährlich zu einem oder mehreren gravierenden Vorfällen.
Pro Natura befürwortet klar, dass Wölfe, die ein tatsächlich bedrohliches Verhalten zeigen und sich beispielsweise gezielt Menschen nähern und sich nicht durch Lärm vertreiben lassen, möglichst rasch abgeschossen werden. Unser Ziel sind Wölfe, die vor dem Menschen Respekt haben und ihm möglichst aus dem Weg gehen – und Menschen, die über den Wolf und sein Verhalten Bescheid wissen. Dann ist eine Koexistenz möglich.
Angriffe auf Grossvieh wie Kühe und Esel sind die absolute Ausnahme und machen nur 1–2% der gerissenen Nutztiere aus. Ein wiederholter Angriff auf Grossvieh ist auch für Pro Natura nicht akzeptabel. In solchen Fällen sprechen auch wir uns für den Abschuss des schadenstiftenden Wolfes aus. Allgemein wird, auch mit Blick auf die langjährigen Erfahrungen im Ausland, davon ausgegangen, dass ausgewachsene Rinder und Kühe von Einzelwölfen meist nicht erbeutet werden können, weil sie zu gross und wehrhaft sind. Rudel sind dazu hingegen imstande, insbesondere wenn ein Tier geschwächt ist.
Die für Schafe und Ziegen empfohlenen Herdenschutzmassnahmen – geeignete elektrifizierte Zäune und Herdenschutzhunde – sind aufgrund der generell geringen Gefährdung von Grossvieh durch Wölfe vielerorts eher unverhältnismässig. Allerdings können bereits einfache strukturelle Massnahmen das Risiko von Wolfsangriffen minimieren, namentlich die Vermeidung von Abkalbungen auf der (Alp-)Weide, das Fördern von Kühen mit guten Mutterinstinkten in der Zucht und der Verzicht auf Enthornung (da Hörner in der Natur primär zur Feindabwehr dienen).
Der Wolf ist Teil der einheimischen Artenvielfalt in der Schweiz. Die beste Artenvielfalt haben wir mit dem Wolf und der ganzen sonstigen Vielfalt der Alpen. Deshalb müssen wir eine Form der Alpsömmerung entwickeln, bei der die Koexistenz mit dem Wolf möglich ist und die der Biodiversität insgesamt nützt. Kurzfristig kann das heissen, Nutztierhaltende für vorzeitige Abalpungen zu entschädigen und bei den Direktzahlungen ein Auge zuzudrücken. Langfristig aber muss entweder das Alpsystem umgestellt werden, oder die unschützbare Alp muss aufgegeben werden. Dabei gilt es zu beachten, dass die Berglandwirtschaft schon lange im Wandel ist und jedes Jahr Alpen aufgegeben werden – der Wolf ist dabei oft nur der Letzte von vielen Gründen.
Nicht immer ist das ein Verlust für die Natur, denn nicht jede Art der Schafbeweidung ist automatisch biodiversitätsfördernd. Aus Sicht des Biodiversitätsschutzes müssen prioritär jene Alpweiden erhalten werden, die für seltene Tier- und Pflanzenarten wichtig sind. Ein besserer Herdenschutz sorgt meist auch für besseren Biodiversitätsschutz. Wenn wir als Gesellschaft sowohl den Wolf als auch die traditionelle Alpwirtschaft in der Schweiz erhalten wollen, müssen wir die Älpler/-innen dabei unterstützen. Pro Natura fordert deshalb, dass die notwendigen Strukturanpassungen jetzt durch mehr Beiträge der öffentlichen Hand, mehr Personal auf den Alpen, Beratung und proaktive Unterstützung der Tierhalter/-innen durch die Kantone umgesetzt werden.
Uns machen die Bilder gerissener Nutztiere auch betroffen. Gerade deshalb ist Herdenschutz auch ein Gebot des Tierschutzes. Wir wollen, dass sich Wölfe von Wildtieren ernähren und ihre ökologische Funktion im Wald wahrnehmen können. Dazu trägt der Herdenschutz bei, denn er senkt die Motivation der Wölfe, Nutztiere zu attackieren, erheblich. Gleichzeitig gilt es zu beachten, dass jährlich rund 4000 Schafe während der Sömmerung an Krankheiten, Unfällen und Blitzschlägen sterben*.
Für jedes vom Wolf gerissene Schaf verenden also vier bis fünf weitere Schafe an anderen Ursachen, die als natürlich hingenommen werden. Auch diese Todesfälle sind teilweise mit beträchtlichem Leid verbunden und könnten durch bessere Beaufsichtigung der Herden reduziert werden. Die Wolfspräsenz in der Schweiz ist nicht weniger natürlich als ein Gewitter und wir lehnen es ab, Beutegreifer aufgrund der Tatsache, dass sie ihrem natürlichen Instinkt folgen und andere Tiere töten, moralisch zu verurteilen.
*Erhebung im Rahmen des Forschungsprojekts AlpFutur
Für die ökologische Rolle, welche der Wolf in der Schweiz spielen kann, sind die Wölfe wichtig, die hier leben – und nicht jene in Alaska oder Rumänien. Die wohlhabende Schweiz kann nicht von viel ärmeren Ländern erwarten, dass sie den Wolf oder andere konfliktträchtige Wildtiere wie Löwen oder Elefanten schützen, wenn wir es nicht auch tun. Es ist wie beim Klimaschutz: wir sollten auch nicht unsere Emissionen in Afrika kompensieren und erwarten, dass jemand anderes sich für unser gutes Gewissen einschränkt.
Pro Natura ist an vielen Fronten des Natur- und Artenschutzes aktiv und fördert Wildtierarten wie zum Beispiel Schmetterlinge und Feldhasen aktiver und konkreter als es beim Wolf je der Fall sein wird. Wir setzen uns umfassend für die Artenvielfalt ein, denn die Biodiversitätskrise ist eines der grössten Probleme unserer Zeit - die mangelnde Akzeptanz des Wolfs ist ein Symptom davon. Dass einst bedrohte Arten sich erholen können, ist ein Lichtblick – genau dafür setzt sich Pro Natura ein.