Heinrich Haller: «Ich bin von Langfristigkeit umgeben»
«Es ist halt schon unglaublich schön hier.» Heinrich Haller sagt diesen Satz halb schüchtern, halb enthusiastisch. Wir stehen an einem frühsommerlichen Abend auf der Südseite des Munt la Schera, Hallers Lieblingsecke des Nationalparks. Erste Gämsen äsen auf den noch schütteren Bergwiesen, im Talboden breitet sich ein riesiger Bergnadelwald aus, während im Hintergrund die langgezogenen italienischen Täler östlich und westlich der Cima Paradiso dem Gebiet eine grandiose Weite verleihen.
Pragmatischer Naturromantiker
Hunderte Male hat Heinrich Haller dieses Panorama in seiner 23-jährigen Tätigkeit als Direktor des Schweizerischen Nationalparks schon erblickt, satt ist er nie geworden. Im Gegenteil: «Schau dir an, wie diese Erika nun überall rot leuchten, im Sommer dann stehen die Bergwiesen in voller Farbe, bevor das Rot im Herbst in anderer Form zurückkehrt und schliesslich die weisse Stille einkehrt.» Haller sagt diesen Satz mit einer solchen Leidenschaft, dass er gleich erklärend nachschiebt, er sei nun mal ein Naturromantiker.
Zum Träumer ist der scheidende Nationalparkdirektor deshalb aber nie geworden. Er sei durch und durch ein Pragmatiker, betont er mehrfach auf unserer Wanderung durch den Nationalpark. Er versuche, das Machbare umzusetzen, anstatt unrealistische Maximalforderungen für die Natur aufzustellen.
Das will aber nicht heissen, dass sich der Wildtierbiologe nur der Mehrheitsmeinung anpasst und keine deutlichen Positionen vertritt. Besonders gut lässt sich das bei der letzten Spezies nachvollziehen, die nach der zwischenzeitlichen Ausrottung ins Gebiet des heutigen Nationalparks zurückgekehrt ist; dem Wolf. Seit gut zwei Jahren streift das Weibchen F18 durchs Gebiet zwischen Ofenpass und Zernez. Heinrich Hallers Freude über diesen Neuankömmling ist spürbar, er hat ihn schon wiederholt beobachtet und fotografiert.
«Der Mensch muss nicht alles in Beschlag nehmen.»
Heinrich Haller, scheidender Nationalparkdirektor
- Raphael Weber/Pro Natura
Haller lehnt es entschieden ab, dass Wölfe mit dem revidierten Jagd- und Schutzgesetz künftig viel leichter dezimiert werden können. «Es ist doch absurd: Nun sprechen alle über den dramatischen Rückgang der Biodiversität, und gleichzeitig sollen seltene und geschützte Arten zum Abschuss freigegeben werden.»
Gerade der Wolf habe eine besonders förderliche Wirkung auf die Biodiversität: Wölfe setzen wild lebende Huftiere unter Druck, was sich auf deren Zahl und Verteilung und somit auch auf die Waldverjüngung auswirken kann. Seitdem im Calanda-Gebiet ein Wolfsrudel besteht, wird dort die Sonderjagd auf Hirsche denn auch weniger intensiv ausgeführt als in früheren Jahren.
Sollten Wolfspopulationen dereinst über den ganzen Alpenbogen etabliert und vernetzt sein, ist für den Pragmatiker Haller eine passende Regulierung ein diskutierbares Thema. «Doch von einer stabilen Wolfspopulation sind wir noch weit entfernt.» Das zeige alleine schon die Tatsache, wie lange F18 nun schon auf einen Partner warte.
Die Beutegreifer im Fokus
In Hallers beruflicher Laufbahn sind es immer die grossen Beutegreifer gewesen, die ihn besonders fasziniert und begleitet haben, insbesondere Luchs sowie Steinadler und Uhu. Der Wildtierbiologe hebt gerne die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Arbeit im Nationalpark hervor, Haller hat dazu auch mehrere Bücher veröffentlicht. Gerade die Langzeitforschung, ein grosser Trumpf des über 100-jährigen Nationalparks, eröffne viele wichtige Erkenntnisse über die Veränderungen der Alpen.
Was ein Jahrhundert unberührte Natur konkret bedeutet, zeigt sich eindrücklich bei unserem Abstieg von der Alp la Schera: Zwischen imposanten Baumriesen liegt das Totholz Tausender Bäume wild durcheinander, dazwischen spriessen junge Föhren, Lärchen und Fichten hervor – Naturdynamik pur. «Noch ein paar Hundert Jahre und dann haben wir hier einen wirklichen Urwald», meint Haller ehrfürchtig.
Dass in der Natur andere Zyklen als im Menschenleben gelten, lässt Haller immer wieder durchblicken. «Ich bin von Langfristigkeit umgeben», sagt er in einer natürlichen Waldlichtung. Um Grosses entstehen zu lassen, müsse Homo sapiens sich nicht zu wichtig nehmen und auch einfach mal zurückstehen.
Es ist diese Demut, dieses Wissen um die Grenzen des menschlichen Wirkens, die ihm nach 23 Jahren als Nationalparkdirektor nun auch den Abgang erleichtern. Und so erzählt er mit der erneuten Leidenschaft des Naturromantikers, dass es im Nationalpark auch dieses Val Nüglia gibt – ein Tal, wohin kein Wanderweg führt und das somit für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Er sei in 23 Jahren nicht einmal versucht gewesen, seine Position auszunutzen und dieses Tal zu erkunden. Nur schon das Wissen um dieses unberührte Tal sei für ihn eine grosse Freude. Denn: «Der Mensch muss nicht alles in Beschlag nehmen.»
RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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