Interview mit Cartoonist Ruedi Widmer: «Ich will vermeintliche Gewissheiten ins Wanken bringen»
Ruedi Widmer schreitet zügig voran. Es geht an diesem warmen Frühlingstag durch den Eschenbergwald hinauf auf den Hausberg Winterthurs, Widmers liebste Jogging- und Spazierstrecke. Mehrmals pro Woche nimmt er diesen Weg, um den Kopf freizubekommen und die Natur zu geniessen. «Ich arbeite am liebsten aus dem Bauch heraus», sagt der Cartoonist. «Und das geht besser, wenn der Kopf frei ist.»
Natürlich verfügt auch Widmer über bewährte Tricks und Kniffe, doch er hat sich nie darauf beschränkt, sondern seine Arbeit stetig weiterentwickelt. Sein Experimentierfeld ist die Serie «Die letzten Geheimnisse einer rationalen Welt», die seit zwanzig Jahren wöchentlich im Winterthurer «Landboten» erscheint. Hier probiert der Cartoonist und gelernte Grafiker immer wieder neue Umkehrungen und Übersteigerungen aus: In Folge 666 beispielsweise wird das beständige Updaten von IT-Programmen ad absurdum geführt, indem auch die Natur ein Update erhält: Der Regenbogen erscheint in einem verbesserten Farbverlauf, über tausend neue Tierarten werden eingeführt.
Reduziert und direkt
In all den Jahren nahezu unverändert blieb der simple, mitunter infantil wirkende Zeichnungsstil, den Constantin Seibt, langjähriger WOZ-Journalist und «Republik»-Mitbegründer, als «Stil der Freiheit» interpretiert. «Ungeduldig, wie er (Widmer) ist, ist es der direkteste Weg von der Idee zum Papier – ohne den Ballast der Sorgfalt, ohne das Netz des Schön-Gemacht, ohne das Abendkleid der Schnörkel – hier steht die Komik nackt, wie der Herr sie schuf.» So krakelig die Zeichnungen wirken: Widmer ist kein Romantiker, er zeichnet alles digital, mit einem elektronischen Stift. Im Schnitt fertigt er eineinhalb Zeichnungen pro Tag an, im Auftrag von Tageszeitungen, Zeitschriften und online-Publikationen aus dem In- und Ausland.
Seit elf Jahren veröffentlicht der Winterthurer seine Witze, wie er diese Art von Cartoons nennt, auch im Pro Natura Magazin. «Eine Herzenssache», sagt Widmer, der im bäuerlich geprägten Neftenbach (ZH) aufgewachsen ist, in einem autofreien Haushalt und mit naturbegeisterten Eltern, die sich im lokalen Naturschutz engagierten. «Das hat mich zweifellos geprägt», sagt er. «Der Schutz der Umwelt und unseres Naturerbes ist mir wichtig.» Gleichzeitig glühe in ihm eine «kindliche Begeisterung» für die moderne Technologie, schiebt er nach. Mit Interesse verfolge er etwa die Entwicklungen in der Weltraum- und Luftfahrt.
Die lustvolle Verwirrung
Bald darauf erreichen wir den Wildpark Bruderhaus. Der Zutritt ist uns allerdings verwehrt wegen Corona. Das Virus beschäftigt Ruedi Widmer nicht nur als Familienvater, der nun zwei Buben (8 und 11) ganztags zuhause hat, sondern auch in seiner Arbeit: «In den Medien dreht sich grad alles um dieses Thema. Das engt schon ein.»
Widmer bevorzugt die breite Palette. Es gibt kaum ein Thema, mit dem er sich satirisch nicht auseinandersetzt hat: vom Versicherungswesen über den Finanzausgleich bis zu Gentech-Mais. Doch im Unterschied zu den Journalisten, die angehalten sind, Ordnung zu schaffen, macht Widmer genau das Gegenteil: Er verwirrt, absichtlich und lustvoll. «Mir geht es nicht darum, noch mehr Chaos zu generieren, das wäre sinnlos», sagt Widmer. «Vielmehr versuche ich, vermeintliche Gewissheiten und selbstgerechte Urteile ins Wanken zu bringen.»
Und so nimmt er gerne auch dogmatische Umweltschützer wie Extinction Rebellion oder Ecopop aufs Korn. «Diese Gruppen glauben, fertige Lösungen gefunden zu haben», sagt Widmer. «Doch das funktioniert nicht. Die Welt ist zu komplex, und sie verändert sich ständig». Auch er habe keine Rezepte zur Hand.
Stattdessen hat er Fragen: Wie weit darf und soll der Umweltschutz gehen? Wann kollidiert er mit elementaren Bedürfnissen des Menschen? Ist Umweltschutz nur für jene machbar, die sich ihn leisten können? Für einen wie ihn zum Beispiel, der «das Glück hat», nicht pendeln zu müssen, der über die finanziellen Mittel verfügt, um Bio-Lebensmittel einzukaufen, und über das Privileg, in der Schweiz zu leben – einem Land, das seine Umweltbelastungen zu einem Grossteil ins Ausland auslagert? «Jeder von uns lebt mit solchen Widersprüchlichkeiten», sagt Widmer. «Ich versuche mit meiner Arbeit, sie ans Licht zu zerren.»
- Ruedi Widmer
Alle kommen zu Wort
Genau darin liegt die Stärke in Widmers Cartoons. Sie kommen ohne Fingerzeig auf die «Bösen» aus. Trump, Putin, Bolsonaro und geldgierige Manager bleiben (zumeist) aussen vor. Dafür bekommen andere eine Stimme: Kühe, Spargeln, Polizisten, Eiermänner, Automaten, Rentnerpaare, der Frühlingschnee und sogar die Münzen dürfen ihre Meinung äussern. Das ist zutiefst demokratisch – und tröstlich: Wo alle zu Wort kommen, sind auch alle verantwortlich und die Verhältnisse scheinen, unabhängig von den Bösen und Mächtigen, als veränderbar.
Nicolas Gattlen, Redaktor Pro Natura Magazin.
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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