Den Wolf als Chance begreifen
Dass ein ausgerottetes Wildtier ein so fulminantes Comeback liefern würde wie der Wolf in Europa, war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kaum vorstellbar. Nicht zuletzt der gesetzliche Schutz ab 1971 durch die Berner Konvention ermöglichte dem Wolf von den Südalpen aus die Rückkehr in ehedem von seiner Art besiedelte Gebiete. Die Erholung der Wolfsbestände ist eine Erfolgsgeschichte des Artenschutzes inmitten einer globalen Biodiversitätskrise.
Die Anwesenheit von Wölfen macht sich in der Natur bemerkbar. Die «Saga» von der Rückkehr der Wölfe in den Yellowstone Nationalpark und von der Wirkungskaskade, welche dies in der dortigen Lebensgemeinschaft auslöste, gehört heute zum Populärwissen. Manche Hypothesen sind wissenschaftlich noch umstritten, denn es spielen weitere Faktoren nebst dem Wolf eine Rolle. Doch das Puzzle über die ökologische Rolle des Wolfes verdichtet sich zu einem spannenden Gesamtbild.
Der Wolf beeinflusst das Raumnutzungsverhalten und die Gesamtzahl der Hirsche – hin zu kleinen Herden mit häufigen Ortswechseln – und hat indirekt einen förderlichen Einfluss auf die Vegetation. Früher von den Wapitis verbissene Weiden und Espen wachsen wieder in Flussnähe, was die Ausbreitung des Bibers begünstigt und damit die Zunahme der Artenvielfalt an Biberseen. Von Wölfen erlegte Tiere werden zu «Nährstoffinseln» und bieten Nahrung für Bären und Raben, Insektenlarven und Mikroorganismen. Und weil Wölfe kleinere Beutegreifer jagen und töten – in Yellowstone etwa Kojoten –, profitieren die Bestände von Ziesel und Gabelbock.
Der Verbiss ist rückläufig
Kann man davon ausgehen, dass sich solche Prozesse auch in unserer Kulturlandschaft abspielen werden? Auch in der Schweiz beeinflusst der Wolf das Verhalten von Hirsch und Reh und bremst den Zuwachs der Bestände. Wo der Wolf wieder vorkommt, beobachten Försterinnen und Förster schon nach wenigen Jahren, wie der Verbiss an Weisstanne, Vogelbeere und Ahorn zurückgeht. Diese Baumarten sind wichtig für die Anpassung des Bergwaldes an die menschgemachte Klimaerwärmung.
Martin Kreiliger, Forstingenieur aus Disentis, hat in seinen dreissig Berufsjahren erlebt, wie sich die Hirschpopulation verdoppelt und der Wildverbiss verschlimmert hat. «Wir Förster beobachten in Wäldern mit Anwesenheit von Wolf oder Luchs, dass sich die Verjüngungssituation deutlich verbessert», so Kreiliger. Beim Luchs, der sich schon länger in den Schweizer Wäldern aufhält, ist dieser Effekt wissenschaftlich erwiesen. Die Wildschäden am Schutzwald haben vielerorts unhaltbare Zustände erreicht; es müssen Millionen in Wildschutzmassnahmen und Verbauungen investiert werden. «Im Schutzwald geht es letzten Endes um die menschliche Sicherheit», betont Kreiliger.
Viele Tiere profitieren vom Wolf
Höchstwahrscheinlich hat die Rückkehr des Wolfs in die Schweiz auch einen positiven Einfluss auf die Ernährungslage von Aasfressern wie Bartgeier oder Kolkrabe, zudem kann er in seinen Habitaten auch die hohen Fuchsbestände reduzieren.
Es bedarf weiterer Forschung, wie sehr der Wolf im Lebensraum Kulturlandschaft eine Schlüsselrolle einnehmen kann. Denn menschliche Aktivitäten wie Jagd, Landwirtschaft, Zerschneidung der Lebensräume und Störung des Wilds spielen weiterhin eine massgebliche Rolle. So wird der Wolf kaum die Jagd vollumfänglich ersetzen, aber er kann einen positiven Beitrag an die Regulierung des Schalenwilds leisten. Die Rückkehr des Wolfes bewirkt zudem eine bessere Beaufsichtigung der Schafe auf den Alpen – was im Sinne des Naturschutzes ist. Denn unkontrolliert weidende Schafe schädigen die Vegetation und übertragen Krankheiten auf Wildtiere.
Den Schäden, die der Wolf an vorwiegend ungeschützten Nutztieren anrichtet, stehen also zahlreiche Chancen für Mensch und Natur gegenüber. Dies gilt es angesichts der oft schrillen Wolfsberichterstattung in den Medien nicht zu vergessen.
SARA WEHRLI betreut bei Pro Natura das Dossier Beutegreifer.
- Peter Dettling
Der Mensch ist der grössere Stressfaktor
Beutegreifer beeinflussen ihre Beutetiere nicht nur durch direkte Nachstellung, sondern auch durch ihre schlichte Präsenz. Das Wild, also die Beute, macht dabei eine Abwägung zwischen Kosten und Nutzen: Einerseits wird versucht, möglichst viel Futter aufzunehmen, andererseits soll der Feind möglichst gemieden werden. Indem also etwa Hirsche wachsamer sind, den Aufenthaltsort häufig wechseln und offenes Gelände meiden, verringern sie das Risiko einer Begegnung mit dem Fressfeind. Dies führt dazu, dass Schalenwild im Wolfsgebiet schwieriger zu beobachten und zu bejagen ist.
Dauernde Anwesenheit von Fressfeinden führt jedoch zu einer Gewöhnung, denn Wildtiere können sich permanente Angst schlichtweg nicht leisten. Insbesondere an Hetzjäger wie den Wolf gewöhnen sich Beutetiere ein Stück weit, denn bei Wölfen müssen sie nicht — wie etwa beim Luchs, aber auch beim Menschen mit seinem Gewehr — mit Überraschungsangriffen rechnen. So hat eine Forschungsarbeit in Polen gezeigt, dass die hormonelle Stressbelastung des Wildes in «unberührten» Wolfsgebieten wie dem Białowieza-Urwald deutlich geringer ist als in Gebieten, die stark anthropogen (durch Jagd, Strassen, Freizeitnutzung) beeinflusst sind, wo aber keine Wölfe vorkommen. Der Mensch scheint als Stressfaktor also gravierender zu sein als der Wolf. sw
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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