Hüsliischweiz Vesna Peric
28.07.2023 Siedlungsraum

Die Ursachen der zersiedelten Schweiz sind zahlreich

Warum sich Pro Natura weigert, ein komplexes Thema auf einen Sündenbock zu reduzieren.

Der Vorwurf erreicht uns nach jeder Ausgabe, in der wir uns mit Raumplanung und Siedlungsentwicklung befassen: Pro ­Natura blende aufgrund politischer Korrektheit die wichtigste Ursache der Zersiedelung aus – die Zuwanderung. Dieser Vorwurf wird uns sicherlich auch nach dieser Ausgabe und ebenso im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen erreichen. Deshalb sehen wir uns hier veranlasst, zu diesem Thema Stellung zu beziehen. 

Wachstum um jeden Preis galt als Wundermittel

Vorweg: Sicherlich ist die Bevölkerungsentwicklung ein Treiber unserer Siedlungsentwicklung, in den Augen von Pro Natura gibt es aber viel wichtigere Ursachen der zersiedelten Schweiz. Die erste davon liegt in unserer föderalistischen Raum­planungs­politik. Jahrzehntelang hatte jede Gemeinde bei der Bauzonenfestlegung weitgehend freie Hand, und Wachstum um jeden Preis galt bei den meisten Gemeinden als Wundermittel. So entstand unsere «Hüslischwiiz», eine äusserst raumintensive und ineffiziente Variante der Siedlungsentwicklung.

Erst mit der ersten Landschaftsinitiative, die von Pro Natura lanciert wurde, entstand der Druck, das zuvor wenig griffige Raumplanungsgesetz (RPG) zu revidieren und zu verschärfen. Die Schweizer Bevölkerung hatte diese Vorlage im Jahr 2013 mit grosser Mehrheit angenommen. Damit wurden die Kantone dazu angehalten, haushälterischer mit den Bodenreserven umzugehen, effizientere Wohnformen zu fördern, die Siedlungen zu verdichten und Neuerschliessungen besser entlang bestehender Verkehrsachsen zu konzentrieren. 

So weit, so gut. Doch in der ersten RPG-Revision wurde der Fokus nur auf das Siedlungsgebiet gerichtet und die Landwirtschaftszone aussen vor gelassen. Gerade dort hat sich durch eine Häufung von Ausnahmeregelungen aber ein regelrechter Bauboom entwickelt. Deshalb hat Pro Natura mit weiteren Umwelt­verbänden die zweite Landschaftsinitiative lanciert, die momentan in den eidgenössischen Räten behandelt wird.

Zersiedlung Fabian Biasio
In Tiefsteuerkantonen wie Zug sind die Bevölkerung und die Siedlungsflächen während den letzten Jahrzehnten besonders markant gewachsen.

Wie auch immer diese Debatte enden wird: Auch für die willkürliche Verbauung unserer Landschaften im Landwirtschaftsland kann nicht die Zuwanderung verantwortlich gemacht werden. 

Zu Recht darf nun eingewendet werden, dass die Zuwanderung aber den ohnehin schon überhitzten Wohnungsmarkt ­zusätzlich anfeuert. Dazu ein paar Anmerkungen: Die jetzige Situation ist auch eine Folge unserer Wachstums- und Überflussgesellschaft, denn der durchschnittlich in der Schweiz ­beanspruchte Wohnraum hat in den vergangenen Jahrzehnten stetig zugenommen. Der durchschnittliche Wohnflächenkonsum einer Person: 

1980
2021

Neulich berechnete der Leiter des Swiss Real Estate Institute im «Tages-Anzeiger», dass in der Stadt Zürich ein Drittel aller Wohnungen leer stünde, falls durchschnittlich gleich viel Wohnfläche wie im Jahr 1970 konsumiert würde. Ausländerinnen und Ausländer wohnen in der Schweiz übrigens in tendenziell kleineren Wohnungen. 

Dazu kommt, dass riesige Wohnflächen in der Schweiz ineffizient genutzt werden; in über einer Viertelmillion Häusern wohnen nur eine bis zwei Personen. Und die derzeitigen Preisexplosionen sind auch eine Folge des deregulierten und ren­dite­orientierten Immobilienmarkts. 

Zuwanderung ist eine Folge der Tiefsteuerpolitik

Zersiedlung Fabian Biasio
Zuwanderung ist vor allem eine Folge der wirtschaftlichen Wachstumspolitik.

Was die Zuwanderung selbst betrifft, so ist diese primär eine Folge unserer wirtschaftlichen Wachstums- und Tiefsteuer­politik. Unzählige ausländische Unternehmen wurden in den vergangenen Jahrzehnten mit höchst vorteilhaften Konditionen in die Schweiz gelockt. Und selbstverständlich haben sie dabei auch internationale Fachkräfte mitgebracht und angezogen. Die gleichen politischen Kräfte, die dieses Steuerdumping stets vehe­ment gefördert und verteidigt haben, sind es nun aber ausgerechnet, die aus dieser Zuwanderung politisches Kapital schlagen wollen. 

Dazu ein aktuelles Beispiel: Der Bundesrat schlägt den ­Räten die Einführung der Tonnagesteuer vor. In der Schweiz ansässige Reeder müssten dann nicht mehr auf Basis ihrer ­Gewinne Steuern bezahlen, sondern auf Grundlage der Transportkapazitäten ihrer Schiffe. Nutzniesser dieser unökologischen Vorlage wären primär grosse Rohstoffhändler. Im Nationalrat befürwortete die SVP diese Vorlage explizit: Damit könnten zusätzliche Unternehmen angesiedelt und neue Stellen geschaffen werden, liess die Partei verlauten. 

Logischerweise wird mit dieser Massnahme aber auch die Zuwanderung weiter angekurbelt. Als Konsequenz schnellen in (rechtsbürgerlich dominierten) Tiefsteuerkantonen, wo sich zahlreiche internationale Konzerne niedergelassen haben, die Wohnungs- und Häuserpreise weiter in die Höhe. Für Normalverdiener wird es immer schwieriger, sich erschwinglichen Wohnraum zu leisten. Hier kommt wieder die SVP ins Spiel und lanciert die sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative, welche die Zuwanderung limitieren will. 

Nicht nur die Wirtschaft wächst

Pro Natura beurteilt als Naturschutzorganisation nicht den Sinn und Nutzen von steuerlichen und politischen Praktiken, die nicht nur das Wirtschafts-, sondern auch das Bevölkerungs- und Siedlungsflächenwachstum ankurbeln – sie weigert sich aber auch, ein komplexes Thema auf einen Faktor zu reduzieren und die Zuwanderung als wichtigsten Grund einer zersiedelten Schweiz zu brandmarken. 

Zudem: Für die Zukunft des Planeten ist es letztlich egal, ob ein Mensch in New York, London, Zürich oder Singapur lebt – überall hinterlässt er einen (meist zu grossen) Fussabdruck. Mit einem Zuwanderungsstopp in der Schweiz würde sich am globalen Ressourcenverbrauch rein gar nichts ändern – im Gegenteil: Die Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz werden in der Abschottung wahrscheinlich noch stärker versucht sein, weiterhin im Überfluss zu leben und ihren hohen Ressourcenverbrauch von 2,8 Erden nicht zu drosseln. 

Die Umwelt braucht globale Lösungen

Zukunftsfähige Umweltpolitik ist eine globale Herausforderung. Auch deshalb kämpft Pro Natura nicht nur in der Schweiz für mehr Natur, sondern setzt sich im Rahmen des globalen Netzwerks Friends of the Earth dafür ein, dass der Klimawandel und der Biodiversitätsverlust weltweit wirksam bekämpft werden, dass Menschen auf der ganzen Erde lebenswürdige Bedingungen vorfinden. Anstösse dazu geben wir auch in dieser Ausgabe mit ihrem bunten Titelthema, verbunden mit der ­Botschaft: Weniger (Ressourcenverbrauch) kann auch mehr (Lebens­qualität) sein! 

RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin.

Siedlung Matthias Sorg
Raumplanung
Raumplanung für eine haushälterische Bodennutzung
Die Siedlungsfläche wuchert immer weiter in die Schweiz hinein. Pro Natura setzt sich dafür ein, dass Lebensraum für Mensch und Natur dauerhaft erhalten bleibt.

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.



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