«Schneckenpostpolitik» gefährdet unsere Ernährungsgrundlage
Für Alarmismus sind Wissenschaft und Bundesbehörden nicht bekannt. Im Gegenteil. Sie halten sich eher zurück, wägen ab und versuchen, nicht anzuecken. Bislang. Denn die Tonalität ändert sich gerade. Insbesondere Forschungsresultate im Zusammenhang mit der Biodiversitäts- und der Klimakrise machen inzwischen glasklar, wie rasch wir handeln sollten und wie dringlich die Probleme sind. Ein Beispiel gefällig? Am 20. März 2023 schreibt Meteo Schweiz in ihrem Blog zum neuen Synthesebericht des Weltklimarats Klartext: «Die Entscheidungen, die wir in der laufenden Dekade treffen, werden Auswirkungen für Tausende von Jahren haben.» Und der Bericht des «Scientific Expert Panels», in dem sich über 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zusammengeschlossen haben, stellt für die Landwirtschaft klare Reduktionsziele. Umzusetzen nicht bis irgendeinmal, sondern bis im Jahr 2030!
Die Zukunft der Ernährung
2015 hat sich die Schweiz verpflichtet, ihren Beitrag zum Erreichen der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung («Sustainable Development Goals», SDG) bis 2030 zu leisten. Will sie das erreichen, muss sie ihr Ernährungssystem grundsätzlich verändern. Die «Ernährung» kommt bei der Umweltbelastung nämlich noch vor «Wohnen» und «Mobilität». Deshalb braucht es über die ganze Wertschöpfungskette neue Rezepte – von der Produktion bis zum Konsum. Weil unsere Ernährung viel mit Traditionen und Gewohnheiten zu tun hat, braucht es neben politischen Massnahmen auch einen gesellschaftlichen Dialog über unser individuelles Verhalten.
Einen guten Weg, um das grosse Potenzial der Schweiz in diesem Bereich auszuschöpfen, zeigt das «wissenschaftliche Gremium Ernährungszukunft Schweiz» auf. Das breit abgestützte Panel vereint über 40 Stimmen der Wissenschaft und hat mit einem wissenschaftlichen Gesamtblick auf die Zusammenhänge im Ernährungssystem Lösungswege für ein nachhaltigeres Ernährungssystem der Schweiz ausgearbeitet.
- Matthias Sorg
Politische Mühlen mahlen langsam
Die klaren Aussagen der Wissenschaft und der Bundesverwaltung zu notwendigen drängenden Veränderungen an unserer Lebensweise stehen im krassen Kontrast zur Langsamkeit der Politik. Hier mahlen die Mühlen weiterhin ihr gemächliches Tempo. Zum Beispiel bei der Beratung der Agrarpolitik 2022 (AP 22+). Nach dem Ständerat hat auch der Nationalrat in der Frühlingssession 2023 ein Mini-Paket zur zukünftigen Weiterentwicklung der Agrarpolitik gutgeheissen. Nicht angegangen werden damit die drängenden Herausforderungen im Klima- und Umweltbereich. Somit wurde das Zeitfenster als Chance verpasst, die Ausrichtung der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft ökologisch wie auch gegenüber dem Markt zu stärken. Von einer Mehrheit im Parlament werden die Biodiversitäts- und Klimakrise weiterhin negiert, als ob sie nicht stattfinden würden.
Alle Umweltanträge abgelehnt
Der Nationalrat hat, wie auch der Ständerat, alle Anträge für eine Verbesserung der Vorlage AP 22+ im Umweltbereich bachab geschickt. Immerhin hat er das Parteistellungsrecht der beschwerdeberechtigten Organisationen nicht eingeschränkt, wie es ein Antrag gegen den Willen des Bundesrates forderte. Somit haben die Natur und die öffentliche Gesundheit neu auch eine im Landwirtschaftsgesetz verankerte Stimme im Zulassungsprozess von potenziell gefährlichen Pestiziden. Der Nationalrat lehnte es aber ab, die Tragfähigkeit der Ökosysteme in den ökologischen Leistungsnachweis für die Direktzahlungen als Vorgabe aufzunehmen. Und Klimaziele für die Land- und Ernährungswirtschaft wollte er auch nicht im Gesetz verankern. Dies, obschon die Wissenschaft klar aufzeigt, dass wir durch die Klimakrise unsere Ernährungsgrundlage gefährden. Die Umwelthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Centre for Development and Environment (CDE) der Uni Bern Bettina Scharrer sagt es in einem Interview des CDE so:
Ernährungs- statt Agrarpolitik
Mit dieser «Schneckenpostpolitik» kommt die Schweizer Landwirtschaft in Verzug, sich den Herausforderungen unserer Zeit anzupassen und ein resilientes Ernährungssystem aufzubauen. Ihre Positionierung am Markt wird geschwächt. Leidtragende dieser Politik werden zuerst die Bäuerinnen und Bauern in der Schweiz sein. Wie es schon heute keine Rolle für die Grossverteiler spielt, ob die Biokartoffel Anfang April aus Schweizerernte vom Vorjahr oder aus neuer Ernte des laufenden Jahres kommt, aber aus Ägypten importiert. Der Konsument merkt nicht viel, die Bäuerin aus der Schweiz aber irgendeinmal schon, wenn die Ausnahme zur Regel wird.
Immerhin findet gerade ein Umdenken statt. Einig sind sich die Politik und die meisten Interessenvertreter, dass es in Zukunft eine Land- und Ernährungspolitik braucht. Lösungen müssen nicht nur im Kulturland sichtbar werden, sondern auch im Ladenregal. Der Schweizer Bauernverband weist seit Jahren mantramässig darauf hin, dass Massnahmen in der Landwirtschaft dem Klima nicht das Geringste nützen, wenn sich der Konsum nicht verändere. Wie sich jedoch der Konsum verändern soll, darüber schweigt sich der Interessenverband aus. Nun steht die erste Nagelprobe an. Bio-Suisse möchte mindestens 15 000 Hektaren zusätzliche Flächen unter ihr Label nehmen. Heute wird immer noch viel Biobrotgetreide importiert, in Zukunft möchte Coop ihren Anteil zu 100 Prozent aus Schweizer Produktion decken. Es liegt hier nicht nur an der Politik, Weichen zu stellen, sondern an der konkreten Ausrichtung der Produzentinnen und Produzenten hin zu den Bedürfnissen des Marktes und der Konsumentinnen und Konsumenten.
MARCEL LINER, Leiter Landwirtschaftspolitik bei Pro Natura.
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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