Heuschrecke Beat Hauenstein
04.05.2022

Biodiversitätskrise: Warum wieder mehr Heugümper hüpfen müssen

Unserer Natur gehts gut. Das denken viele. Doch das Gegenteil ist der Fall, weiss Urs Tester von Pro Natura. Der Abteilungsleiter Biotope und Arten sagt, was wir tun müssen, um die Biodiversität zu retten.

Marcel Zulauf: Was ist Biodiversität eigentlich?

Urs Tester: Biodiversität ist die Vielfalt des Lebens auf unserer Erde. Und zwar von der genetischen Vielfalt bis zur Vielfalt der Lebensgemeinschaften. Wir Menschen sind Teil dieser Vielfalt und gleichzeitig von dieser abhängig. Darum ist Biodiversität so wichtig.

Sie sprechen von Biodiversitätskrise: Wie stets darum in der Schweiz? 

Der Biodiversität weltweit gehts schlecht. Und der Biodiversität in der Schweiz gehts besonders schlecht. 

Woran machen Sie diese Krise fest? 

Viele Lebensgemeinschaften und deren Lebensräume verschwinden oder sind nur noch auf kleiner Fläche vorhanden – oder so stark verändert, dass sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen können. Zum Beispiel fliessen viele kleine Bäche im Mittelland nicht mehr offen, sondern sind in Röhren verlegt oder begradigt und können dort natürlich ihre Funktion als Lebensraum nicht mehr erfüllen. In vielen töten Dünger und Pestizide Kleinlebewesen ab. Darunter leidet die Vielfalt der Kleinlebewesen in diesen Gewässern und letztendlich auch die Selbstreinigungskraft. Weil die Lebewesen dafür sorgen, dass das Material in diesen Gewässern verarbeitet und das Wasser dadurch sauber wird.

Aber es wird doch viel renaturiert. Der Biber ist sogar in Zürich anzutreffen. 

Sie nehmen etwas wahr, das auch mit der Biodiversitätskrise zu tun hat. Allerdings liegt diese schon länger zurück. Im 19. Jahrhundert betraf es in der Schweiz grosse Wildtiere: Fast alle waren ausgerottet. Es gab keine Biber, Steinböcke, Wölfe oder Luchse mehr. Sogar Hirsche und Rehe fehlten in weiten Teilen des Landes. Diese Krise haben wir überwunden. Die Biodiversitätskrise, die wir jetzt haben, ist weniger sichtbar, weil sie vor allem Pflanzen, Wasserlebewesen und Insekten betrifft. Sie ist aber genauso dramatisch. Denn Insekten machen den grössten Teil unserer Lebensvielfalt aus! 

Wie schwierig ist es, Leute für Insekten zu begeistern? Davor ekeln sich doch viele. 

(Lacht.) Das ist verständlich. Aber es ist wichtig, dass wir Menschen begreifen, dass wir von den Leistungen von sehr vielen Lebewesen abhängig sind. Und zwar auch von Lebewesen, die wir vielleicht gruusig finden. Wir sind abhängig vom Regenwurm, der uns den Boden aufbereitet, und das ist nur eines von Hunderten von Tieren, die im Boden arbeiten. Ohne die würde es ganz anders aussehen. Oder schauen wir auf Kuhfladen: Dafür braucht es Hunderte von Lebewesen, hauptsächlich Fliegen, die den Kuhfladen abbauen. Und wir empfinden Fliegen als eklig, aber wenn es sie nicht geben würde, würden wir im Kuhmist ersticken. 
 

Ameisenhaufen
«Wir müssen begreifen, dass wir von den Leistungen sehr vieler Lebewesen abhängig sind. Und zwar auch von Lebewesen, die wir vielleicht gruusig finden.»
Urs Tester, Abteilungsleiter Biotope und Arten bei Pro Natura

Ist denn das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Biodiversitätskrise vorhanden?

Wenn ich mit Menschen aus meinem Umfeld spreche, höre ich als Antwort oft: Der Natur gehts gut in der Schweiz. Wir haben ja viel Natur in den Bergen, und alles ist grün. Da stelle ich schon fest, dass viele Menschen noch nicht gemerkt haben, dass wir ein echtes Problem haben.

Gibt es aber noch ungefährdete oder intakte Gebiete?

Der Nationalpark ist sicher das bekannteste Gebiet und betrifft eine relativ grosse Fläche. Allerdings ist der Schweizerische Nationalpark der zweitkleinste im ganzen Alpenraum. Wir haben in der Schweiz sehr viele geschützte Gebiete. Aber die sind alle sehr kleinflächig.

Kann ich privat etwas dazu beitragen, um die Biodiversität zu verbessern?

Im eigenen Garten oder auf dem Balkon können Sie einen Beitrag für die Natur leisten, indem Sie Wiesenblumen wachsen lassen, einheimische Stauden und Sträucher und mehr Wildwuchs zulassen. Wenn das in einem Quartier viele Leute machen, wird eine Wirkung erzielt. Dann können auch seltene Arten zurückkehren. 

Was kann die Biodiversitäts-Initiative ­ausrichten?

Die Initiative will dafür sorgen, dass es mehr Flächen gibt, wo solche Lebens­gemeinschaften existieren können. Zum Beispiel, dass es grössere Naturschutzgebiete gibt als bisher. Dass Auen wieder revitalisiert, Moore wieder vernässt werden können. Die Initiative setzt an den zwei wichtigsten Punkten an: bei der Fläche und den finanziellen Rahmenbedingungen, die es braucht für den Naturschutz in der Schweiz.

Das heisst, es geht ums Geld?

Das ist so. Wir müssen investieren, weil der Druck auf solche Flächen sehr hoch ist und wir nicht erwarten können, dass Grundeigentümer das gratis machen zugunsten der Öffentlichkeit.

Wie gehts der Natur in den Bergen?

Es ist auffallend, dass es im tiefer gelegenen Alpenraum eine höhere Artenvielfalt hat als im Mittelland. Eigentlich müsste dies umgekehrt sein. Der Alpenraum ist keine heile Welt mehr. Auch dort hat es Wiesen, die immer häufiger gemäht werden und nicht mehr die reiche Blumenvielfalt haben. Viele Flächen sind überbaut, man sieht viele Eingriffe in Bäche, Wiesenlandschaften. Das zeigt, dass auch im Alpenraum die Biodiversität stark unter Druck ist.

Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Biodiversität aus? 

Die Biodiversitätskrise und die Klimakrise sind stark miteinander ­verbandelt. Die Klimaveränderung sorgt dafür, dass es schwieriger wird für Lebensgemeinschaften, weil sich damit die Rahmenbedingungen verändern. Der Schneehase oder das Schneehuhn werden zum Beispiel durch die Klimaerwärmung weiter hinauf getrieben. Aber im Voralpengebiet hat das Grenzen. Dort sind die Berge einfach nicht hoch genug. Dann verschwinden diese ­Arten, das heisst: Gesamthaft wird ihr ­Lebensraum kleiner.

Alpen
«Biodiversität- und Klimakrise sind stark miteinander verbandelt. Beispiel Schneehase: Er kann nicht überall in höhergelegene, kältere Regionen ausweichen. So verschwinden Lebensräume und ihre Arten.»
Urs Tester, Abteilungsleiter Biotope und Arten bei Pro Natura

Verschwinden die Arten, weil ihr Nahrungs­angebot verschwindet?

Das hat unterschiedliche Gründe. Der Schneehase wird zum Beispiel durch den Feldhasen verdrängt. Das Schneehuhn wiederum braucht gewisse Kälte­bedingungen, und das findet es nur in höheren Lagen.

Was sind die wichtigsten Projekte von Pro Natura im Zusammenhang mit der Erhaltung der Biodiversität?

Was Pro Natura im Vergleich zu anderen Organisationen speziell macht, ist, dass wir selbst Flächen sichern zugunsten der Biodiversität. Wir haben über 700 Naturschutzgebiete, die wir vertraglich sichern oder deren Eigentümerin wir sogar sind. Einen gros­sen Teil dieser Gebiete betreuen wir auch selber. So haben unsere Sektionen Pflegeequipen, bei denen man mitarbeiten kann. Daneben haben wir drei Grossprojekte, die sich um die Förderung der Naturvielfalt kümmern. Bei der «Aktion Biber & Co.» gehts um Bäche, Flüsse und Feuchtgebiete, bei «Hase & Co.» um die Naturvielfalt im Bereich Kulturland und bei der «Aktion Spechte & Co.» um die Vielfalt in den Wäldern.

Wie kann ich beim Wandern die Natur schützen?

Das Wichtigste ist: Kein Feuer machen aus­serhalb einer Feuerstelle. Und wenn man ein Feuer macht, dieses anschlies­send sorgfältig wieder löschen. Dass man Tiere in Ruhe lässt, ist für mich eine Selbstverständlichkeit.

Aber darf ich Blumen pflücken?

Lieber kein Bouquet machen. Die nächsten Wanderer möchten ja auch noch Freude an der Blumenvielfalt haben.

Kann ich die Biodiversitätskrise eigentlich selber beobachten? 

Wenn Sie im späteren Sommer über eine Wiese laufen, sollten Ihnen die Heugümper nur so um die Beine hüpfen. Sie werden im Mittelland fast nirgends ein Gebiet finden, wo Ihnen das passiert. Auf einer Bergwanderung wird es das eine oder andere Mal passieren. Eine einfache Beobachtung im frühen Frühling sind die Wiesen: Auf den meisten wird man vor allem den gelb blühenden Löwenzahn sehen. Eine vielfältige Wiese mit unterschiedlichen Arten, weissen, gelben, roten, blauen Blüten wird man relativ selten antreffen. Und noch seltener wird man eine Wiese sehen, wo sogar Orchideen blühen.

Und wie können Wandernde die Wunder der Natur wahrnehmen? 

In den Bergen nicht nur in die Ferne schauen. Nehmen Sie sich die Zeit, blicken Sie in eine Wiese oder auf einen Ameisenhaufen und beobachten Sie, was dort alles abläuft und wie die Tiere unterwegs sind. Ich finde das immer ein wunderschönes Erlebnis, alles mit aufzunehmen – wie die Pflanzen riechen, die Grillen zirpen – und so ein Gesamtbild der Natur mit nach Hause zu nehmen.

Dr. phil. II und Biologe Urs Tester beschäftigt sich seit 30 Jahren mit der Biodiversität. Er ist als Abteilungsleiter Biotope und Arten für Pro Natura tätig. Dabei betreut er praktische Projekte zur Förderung von Tier- und Pflanzen­arten und Lebensräumen und die ­Naturschutzgebiete von Pro Natura.

Urs Tester Pro Natura
Wald
Die Natur braucht Ihre Unterstützung
Egal ob St. Chrischona in Basel oder der Grosse Mythen im Kanton Schwyz, jede Wanderung bietet ein tolles Naturerlebnis. Damit dies auch so bleibt, setzen wir uns für die Schweizer Natur ein. Wir sichern über 700 Naturschutzgebiete und setzen uns in der Politik sowie mit Umweltbildung und Öffentlichkeitsarbeit für die Artenvielfalt und für naturnahe Landschaften ein. Danke, dass Sie uns dabei unterstützen!

Weiterführende Informationen

Info

Dieses Interview von Marcel Zulauf erschien im Rahmen der Aktion 26 Summit. Mit jedem erreichten Gipfel und dem Scan des Gipfelcodes zahlen Blick und OCHSNER SPORT mit der Aktion «Wandern für die Berge» einen Franken in die Spendenkasse von Pro Natura.

Titelbild © Beat Hauenstein