Quellen - die vergessenen Lebensräume
„Alle haben eine Vorstellung von Quellen, aber kaum jemand hat schon einmal selbst eine gesehen.“ Dies stellte der Kulturwissenschaftler Daniel Suter im Rahmen eines Quellenprojekts an der Universität Basel fest. Überraschen mag das wenig: Seit Jahrhunderten werden die Quellen zur Trinkwasserversorgung und Bewässerung gefasst; 1880 waren im Mittelland bereits mehr als die Hälfte verdolt.
Im Zweiten Weltkrieg dann wurden auch Gebiete mit (wenig schüttenden) Sickerquellen oder Kalkquellmooren flächig entwässert, um die Feuchtwiesen in Äcker umzuwandeln. Schliesslich begann man auch in den Wäldern, die Quellen zu fassen; so dass heute im Mittelland kaum noch eine grössere natürliche Quelle zu entdecken ist. Und es drohen weitere Verluste – vor allem im Berggebiet, wo immer mehr Maiensässe erschlossen und Fortstrassen gebaut werden.
Geblieben sind die mystischen Vorstellungen von der reinen, heilenden und Kraft spendenden Quelle. In der Mythologie gilt sie als Schnittstelle zwischen der Ober- und der Unterwelt, die von zahlreichen Gottheiten und Fabelwesen bevölkert wird. Noch im 19. Jahrhundert war die „Nymphe am Quellweiher“ ein beliebtes Sujet für die Kunstmaler. Und bis heute pilgern Marien-Verehrer zu heiligen Quellen, wo sie ein Bildnis der Jungfrau zu erblicken oder neuen Mut zu erlangen hoffen.
Dokumentiert sind die Quellen auch in den Katastern der Kantone. Manche Register führen den Status der Quellen (gefasst, ungefasst) auf. Ob dieser Status heute noch zutrifft und in welchem Zustand die ungefassten Quellen tatsächlich sind, ist aber kaum bekannt; meist liegen die letzten Begehungen Jahrzehnte zurück. Das Bafu hat die schlechte Datenlage erkannt und unterstützt die Kantone nun bei der Inventarisierung ihrer Quell-Lebensräume. Die Inventare sollen als Grundlage für einen besseren Schutz dieser stark bedrohten Lebensräume und für künftige Revitalisierungen dienen.
Der Kanton Bern nimmt dabei eine Pionierrolle ein. Seit 2015 ist das Amt für Wasser und Abfall (AWA) daran, ein „Inventar naturnaher Quellen“ zu erstellen und hat seither einen Grossteil jener 1040 Quellen analysiert, die im Quellenkataster als „ungefasst“ aufgeführt sind. Dabei zeigte sich, dass die Hälfte dieser Quell-Lebensräume „zerstört“ (gefasst, verbaut) und fast ein Drittel „beeinträchtigt“ ist. Von den 8033 Quellen, die der alte Quellenkataster aufführt, sind heute also rund 90 Prozent gefasst - was fürs ganze Mittelland repräsentativ sein dürfte.
Ein etwas optimistischeres Bild ergibt sich, wenn man jene (kleineren) Quellen hinzurechnet, die im Rahmen des „Quellenprojektes“ von Pro Natura Bern neu entdeckt wurden. Zwischen 2016 und 2017 haben 27 Freiwillige in drei Regionen des Kantons über 1000 Standorte aufgesucht, von denen anzunehmen war, dass dort Quellen noch in einem natürlichen Zustand vorliegen. Dies traf auf rund ein Drittel der Standorte zu; ein weiteres Drittel der Quellen war durch Verbauungen (Brunnen, Viehtränken, Wege, Astdepots etc.) oder durch Vieh-Trittschäden beeinträchtigt; und bei einem Drittel war die Quelle gefasst oder „zerstört“. „Unsere Erhebungen haben wir in die Datenbank des Kantons eingespeist“, erklärt Projektleiter Jan Ryser. Nun gelte es herauszufinden, welche Quellen für Revitalisierungen geeignet sind. Grosses Potenzial ortet der Geschäftsführer von Pro Natura Bern etwa bei still gelegten Trinkwasserfassungen, deren Wasser heute ungenutzt ober-, oder unterirdisch in einem Rohr abfliesst: „Durch das Abbrechen der Fassung und Gestaltung eines natürlichen Quellbereichs liesse sich wieder ein intakter Lebensraum bilden.“
Damit dies gelingt, muss aber auch die Landwirtschaft einbezogen werden. Dies zeigt eine Untersuchung des Nordwestschweizer Gewässerschutzverbands. Zwischen 2010 und 2012 liess der Verband den Zustand von rund 200 ungefassten Quellen im Kanton Basel-Land beurteilen und kam zum Schluss, dass die Struktur der Quellen zwar vielerorts noch intakt war, ihre Lebensgemeinschaft aber nur selten derjenigen natürlicher Quellen gleicht. „Empfindlichen Quellspezialisten waren nur noch äusserst wenige oder überhaupt keine mehr anzutreffen“, erklärt Studienleiter Daniel Küry. Er vermutet, dass Dünger- und Pestizidabschwemmungen aus dem Landwirtschaftsgebiet die Tiere zum Verschwinden brachte.
Der Verlust an intakten Quelllebensräumen liest sich auch an den Roten Listen der bedrohten Tierarten ab. Rund 70 Prozent der Quellbewohner sind darin aufgeführt. Und der Klimawandel dürfte ihre prekäre Lage verschärfen: Einerseits wird in trockenen Sommern der Nutzungsdruck steigen. Andererseits drohen die kühlen Quellen der Alpen wärmer zu werden, was die Kältespezialisten unter Druck bringt. Bei einer Untersuchung von 61 alpinen Quellen im Rahmen des Bafu-Projektes „Anpassung an den Klimawandel“ wurden 27 Insektenarten beobachtet, die an kaltes Wasser gebunden sind. Aufgrund des neu entwickelten Klimawandel-Verletzlichkeitsindexes erwiesen sich 87 Prozent der untersuchten Quell-Lebensgemeinschaften als „bedroht“. Umso wichtiger ist es, dass nun möglichst viele Quellen gesichert und aufgewertet werden.
Verschiedene Quellformen – spezifische Bewohner
Je nach Untergrund dauert es wenige Stunden oder Tage (Karstgestein) bis mehrere Jahrzehnte (Felsgestein des Trias), bis versickertes Regenwasser als Quellwasser aus dem Boden tritt. Auch die Form des Austritts variiert: Bei den Fliess- oder Sturzquellen strömt das Wasser örtlich begrenzt aus dem Boden und bildet ein Gerinne. In manchen dieser Quellen können mehrere Tausend Liter Wasser pro Sekunde aus. Ist das Grundwasser stark kalkhaltig, entsteht aus Moosbüscheln und sich darauf ablagerndem Kalk eine treppenartige, spektakuläre Struktur. In Sumpf- oder Sickerquellen tritt das Wasser flächig aus und fliesst nur langsam. Das vernässte Gebiet kann bis zu 1000 Quadratmeter umfassen. Bei den (seltenen) Tümpel- oder Weiherquellen bildet das von unten aufstossende Grundwasser ein stehendes Gewässer mit sehr langsamem Abfluss.
Quellen weisen besondere Lebensraumbedingungen auf, die sie von anderen Gewässern unterscheiden: Das austretende Wasser ist sauerstoff- und nährstoffarm und weist eine konstant kühle Temperatur auf, die ungefähr der Jahres-Mitteltemperatur des lokalen Grundwassers entspricht. Aufgrund dieser besonderen Verhältnisse beherbergen die Quellen allein bei den gut bekannten Gruppen der Schnecken, Amphibien, Flohkrebse, Libellen sowie Eintags-, Stein- und Köcherfliegen rund 100 spezialisierte Tierarten wie etwa den Feuersalamander, den Höhlenflohkrebs, die Brunnenschnecke oder die Gestreifte Quelljungfer.
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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