Kühe auf der Weide Matthias Sorg
20.07.2018

«Unter dieser Planwirtschaft leidet die Natur heute noch»

Marcel Liner, Landwirtschaftsexperte bei Pro Natura, erläutert die Haltung von Pro Natura zu zwei bevorstehenden Abstimmungsvorlagen und die kommenden Herausforderungen in der Landwirtschaftspolitik.

Pro Natura Magazin: Die Initiative für Ernährungssouveränität wirbt für eine ökologische, faire, vielfältige Landwirtschaft ohne Gentechnik. Das müsste Pro Natura doch unterstützen, und doch empfiehlt sie ein Nein zu dieser Initiative.

Marcel Liner: Auf dem Papier tönt das tatsächlich gut, doch Pro Natura ist der Meinung, dass die Initiative in der Praxis das Gegenteil bewirken würde.

Inwiefern?

Die Initiative will das Rad zurückdrehen und dem Staat wieder viel mehr Kompetenzen in der Landwirtschaft übertragen. Diese Planwirtschaft hatten wir schon einmal, sie hat zur heutigen Intensivproduktion geführt, unter der die Natur heute noch leidet. Deshalb hat sich der Delegiertenrat von Pro Natura klar gegen die Initiative ausgesprochen. Auch keine andere Umweltorganisation und nicht mal Bio-Suisse stellen sich hinter die Initiative.

Ist eine Stärkung der inländischen Produktion nicht im Sinn von Pro Natura?

Nein, die Bauern produzieren heute schon auf Rekordniveau, weit weg von einer standortgerechten Produktion. Wir haben in der Schweiz bereits jetzt die Situation, dass zwar der Markt stark geschützt ist, aber keine Hürden für die Einfuhr landwirtschaftlicher Hilfsprodukte bestehen. Dadurch werden Kraftfutter, Pestizide, Dünger und Megatraktoren im grossen Stil importiert, und es wird viel mehr produziert, als der Boden hergibt. Das Resultat sieht man in unseren stark belasteten Böden und Gewässern.

Also ist die Initiative Ihrer Meinung nach zu wenig durchdacht?

Ja, persönlich bin ich der Meinung, dass die Initiative berechtigte Anliegen aufgreift, deren Umsetzung aber völlig offenlässt – so auch die Forderung nach einer umweltverträglichen Landwirtschaft. Das jetzige Bundesparlament, das die Initiative bei einer Annahme umsetzen müsste, wird ohne klare Vorgaben unsere Landwirtschaft sicherlich nicht umweltverträglicher gestalten.

Auch bei der Fair-Food-Initiative gibt es Bedenken zur Umsetzbarkeit, warum empfiehlt Pro Natura hier aber ein Ja?

Die Initiative bietet eine sinnvolle Grundlage, damit der Bund bei der Ausarbeitung von Handelsabkommen mit anderen Ländern verpflichtet wird, ökologische und soziale Mindeststandards festzulegen. Dies ist dringend nötig, denn heute wird den ökologischen Anliegen in diesen Abkommen praktisch keine Rechnung getragen. Bei den geplanten Freihandelsabkommen mit Indonesien und Malaysia zum Beispiel brauchte es den Druck der NGO, damit die Zerstörung grosser Regenwaldflächen für die Palmölproduktion überhaupt ein Thema in den Verhandlungen wurde.

Die Gegner warnen davor, dass künftig für den Import jeder Packung Spaghetti ein Umweltverträglichkeitsnachweis vorgelegt werden muss.

Nein, das wäre ein Unsinn und auch nicht im Sinn der Initiative. Es geht um die Verknüpfung von Handelsbedingungen mit ökologischen und sozialen Kriterien. Dazu ist aber nicht nur der Staat gefordert, sondern auch die Grossverteiler. Die Fair-Food-Initiative macht sicherlich auch in diese Richtung Druck.

Greifen die beiden Initiativen die wirklich relevanten Herausforderungen in der Agrarpolitik auf?

Fair-Food nimmt zumindest ein wichtiges Grundanliegen auf. Zentral ist aber die Weiterentwicklung der Agrarpolitik 2014 – 2017. Dort wurden wichtige Schritte getätigt, wie etwa die Abschaffung der Tierbeiträge, wenngleich die Vorlage bei weitem nicht unseren Vorstellungen entsprach und nur ein Kompromissvorschlag war. Nun ist die Weiterentwicklung dieser Agrarpolitik das zentrale Thema. Für die Agrarpolitik 22+ erwarten wir die Vernehmlassungsvorlage auf den Spätherbst dieses Jahres. Die Verwaltung arbeitet an ökologischen Verbesserungen, wobei sie darauf achten muss, dass die Vorschläge auch wirklich ausgegoren sind und sich in der Praxis auf dem Feld bewähren.

Denn der Widerstand gegen ökologische Verbesserungen wird bestimmt gross sein?

Das ist so, doch die landwirtschaftlichen Akteure haben noch nicht gemerkt, wie gross der Druck aus der Bevölkerung ist, dass die Schweizer Landwirtschaft endlich umweltverträglicher wird. Es sind drei weitere Initiativen am Laufen – zwei gegen Pestizide eine gegen Massentierhaltung – doch die Agrarlobby hat im Ökologiebereich immer noch einen blinden Flecken. Seit 20 Jahren hat sich die Umweltbilanz der Schweizer Landwirtschaft nicht wesentlich verbessert. Und mit dem aktuellen Parlament wird alles so verwässert, dass wir keinen Schritt weiterkommen.

Wer also kann sich über die mächtige Agrarlobby hinwegsetzen?

Das Stimmvolk bei Wahlen und Abstimmungen. Oder der Bundesrat, der auf Verordnungsebene einen grossen Spielraum hätte, um Verbesserungen auch ohne das Parlament durchzusetzen. Doch er scheut die Auseinandersetzung mit der Agrarlobby. Wenn ein Bundesrat ein Mediencommuniqué verschicken muss, wenn er sich mit dem Bauernverbandspräsidenten zum Mittagessen getroffen hat, zeigt das, dass er vor der Agrarlobby kuscht. Es wäre spannend zu sehen, was ein Bundesrat bewirken könnte, dessen Partei nicht von den Stimmen der Bauernvertreter abhängig ist.

RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin

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Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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