«Der Luchs gibt dem Wald seine Seele zurück»
In einem Wald am Fuss des Neuenburger Juras, wo wir uns an diesem Morgen Anfang November mit Laurent Geslin verabredet haben, zaubert der Herbstnebel eine geheimnisvolle, watteartige Stimmung. Der Naturfotograf kennt hier jeden Baum, jeden Winkel, jede Senke. Wir folgen ihm in die Hänge, die mit nassem Herbstlaub bedeckt sind, und versuchen, mit ihm Schritt zu halten. Bei einem Baumstumpf legt er eine Pause ein. Für einen kurzen Moment stellt man sich den Luchs in dieser Umgebung vor und ahnt, weshalb der Fotograf sich entschlossen hat, ihm seine ganze Zeit zu widmen.
Laurent Geslin ist in der Bretagne geboren, wo er schon als Kind unbemerkt aus dem Haus schleicht, um die Wildnis zu erkunden. Sein Vater geht mit ihm Pilze sammeln oder Hechte angeln und bringt ihm die Schönheit der bretonischen Landschaften näher. «Bei meiner Grossmutter bin ich heimlich durchs Fenster gestiegen, um in die Natur zu gehen. Damals habe ich auch die ersten Fotos gemacht.»
Vom Fuchs zum Luchs
Später schärft Laurent Geslin seinen fotografischen Blick bei der Freiwilligenarbeit in Naturschutzorganisationen und geht, ohne einen wirklichen Karriereplan zu haben, nach London. Er ist fasziniert von dieser Stadt und veröffentlicht dort seine «Urban Safari»-Bilder in einem ersten Buch.
In England lernt er auch seine heutige Ehefrau kennen. Mit ihr zieht er an den Fuss des Neuenburger Juras, weil sie eine Stelle als Anthropologin an der Universität Neuenburg erhält. So landet Laurent Geslin mitten im Reich eines Tiers, das sein Leben für viele Jahre prägen sollte. Seine ersten Spuren entdeckt er im Schnee auf dem Chasseral.
Die Katze muss man sich verdienen
Doch bis zur ersten Begegnung dauerte es noch lange. Der bekannte Schweizer Künstler und Naturkenner Robert Hainard äusserte einmal: «Man muss Geduld haben, so lange, bis man Glück hat.» Und so muss sich auch Laurent Geslin die scheue Grosskatze verdienen. Im Februar 2011 ist es schliesslich so weit, und ein paar Monate später entsteht die erste Fotografie.
Laurent Geslin folgt dem Luchs Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter, und lernt das Tier im Lauf der Jahreszeiten und bei einzelnen Begegnungen immer besser kennen. Dank Geduld und Ausdauer gewinnt er an Erfahrung: Bald erkennt er die einzelnen Tiere an ihren Spuren im Schnee oder am Muster ihres Fells. Er kann die Rufe eines Weibchens, das mit seinen Jungen kommuniziert, von den Rufen eines brünstigen Männchens unterscheiden. Er kennt die Wege, die die Luchse nehmen, und er weiss, wo er sein Tarnzelt aufstellen muss. Kein Zweifel: Er hat es in die Welt der Luchse geschafft.
Sein Film erzählt nun mit ausgesprochen ästhetischen Bildern die Geschichte einer Luchsfamilie, die in den Jurawäldern lebt. Im Hintergrund schwebt dabei die Botschaft mit, dass die biologische Vielfalt im Wald unverzichtbar ist, um das ökologische Gleichgewicht zu erhalten. «Die Wiederansiedlung der Luchse vor 60 Jahren war das Werk von Pionieren, die nicht nur idealistische Ziele verfolgten, sondern sich auch tiefgreifende Gedanken über die Umwelt und die Bedeutung der Wildnis machten. Mit der Rückkehr der Luchse hat der gesamte Wald seine Seele wiedergefunden.»
Wie stark die Kraft der wilden Natur ist, erfährt Laurent Geslin besonders, als er in einer Vollmondnacht unterwegs ist, um die Paarungsrufe der Luchse für die Vertonung seines Films aufzunehmen: Sein Parabolmikrofon übermittelt ihm zunächst das Rascheln der Blätter unter den Pfoten eines herannahenden Luchses und dann plötzlich das Atemgeräusch der Grosskatze, nah, ganz nah. Ein tiefes, dumpfes Schnaufen, das in ihm den jahrtausendealten Angstreflex vor dem Raubtier weckt. «Dabei wusste ich doch genau, dass mir nichts passieren würde! Trotzdem läuft dir in diesem Moment ein Schauer über den Rücken. Nach einem solchen Erlebnis fühlst du dich privilegiert und sehr demütig.»
Schützen, was wir kennen
Genau dieses Gefühl möchte Laurent Geslin mit seinem Publikum teilen. «Man kann nur wiederholen, dass wir nur das schützen, was wir kennen», betont er. Bei der Vorpremiere auf der Piazza Grande im Rahmen des Filmfestivals von Locarno ist der Film vom Publikum begeistert aufgenommen worden. Das liegt sicher auch daran, dass der Film den richtigen Ton getroffen hat, grossartige Bilder zeigt und eine Geschichte erzählt, die sich «in echt» vor unseren Augen abspielt – über den Luchs, aber auch über alle anderen Waldbewohner. Ein erster Film. Sicher nicht der letzte.
FLORENCE KUPFERSCHMID-ENDERLIN, ist Redaktorin der französischsprachigen Ausgabe des Pro Natura Magazins.
Der Film «Luchs» läuft ab Mitte Januar in Deutschschweizer Kinos.
www.lynxlefilm.ch.
- Florence Kupferschmid-Enderlin
Weiterführende Informationen
Info
Foto: Laurent Geslin
Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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