Biodiversitätskrise: die aktuellen Herausforderungen im Schweizer Naturschutz
«Viele glauben, Naturschutz sei, wenn man die Natur einfach ‘sich selbst überlässt’», erzählt Urs Tester, seit über 30 Jahren Abteilungsleiter Biotope und Arten bei Pro Natura. «Der Einfluss von uns Menschen auf die Natur ist heute aber so gross, dass ohne menschliche Hilfe, viele seltene Lebensräume und Arten bereits ausgestorben wären».
Es wird viel getan, für die Trendumkehr reicht es nicht
Allein im kleinen Naturschutzgebiet Chrutzelried im Zürcher Oberland wurden im letzten Jahr 1’563 Stunden Naturschutzarbeit geleistet: «Wir haben mehr Licht in die Moorflächen gebracht, Tümpel ausgebaggert, Wiesen gemäht, Asthaufen und Steinlinsen angelegt und vieles mehr», führt Andreas Wolf, Geschäftsleiter der Stiftung Wirtschaft und Ökologie (SWO) aus, der die Arbeiten verantwortet. Obwohl die Massnahmen lokal Wirkung zeigen, reichen sie nicht, um das Massensterben landesweit aufzuhalten. Ein Drittel aller Arten und die Hälfte aller Lebensräume in der Schweiz sind vom Aussterben bedroht. Und mit ihnen für uns Menschen überlebenswichtige Kreisläufe wie Wasserreinigung, Bestäubung oder Bodenfruchtbarkeit.
Die Herausforderungen sind zahlreich
Im Flachmoor Chrutzelried zeigen sich exemplarisch die grossen Herausforderungen im Schweizer Naturschutz. «Mit 4.2 Hektar ist das Gebiet sehr klein und gleichzeitig umgeben von Siedlungs- und Landwirtschaftsfläche», erklärt Wolf. «Der hohe Besucherdruck, ehemalige Deponien auf dem Gelände, die umgebende Bodenversiegelung, die Düngeremissionen aus der Landwirtschaft – ohne schützende Eingriffe würde dieser Lebensraum im Nu zerstört.» Gemäss Tester, der bei Pro Natura für die nationale Schutzgebietsstrategie zuständig ist, sind solche Bedingungen typisch für die Naturschutzgebiete in der Schweiz.
Für mehr Natur - auch in den Köpfen
Noch ist die Artenvielfalt im Chrutzelried vergleichsweise hoch, doch unter den aktuellen Umständen sei ihr Erhalt nicht möglich, bedauert der Naturschutzexperte. «Vor 130 Jahren umfasste das Chrutzelried rund 25 Hektaren – heute ist noch etwa ein Sechstel davon übrig. Viele der ursprünglichen Arten klammern sich hier an die letzten Überreste ihres Lebensraums», so Tester. Doch dieser sei zu klein, um die ganze Vielfalt in die Zukunft zu retten. «Wenn das Schutzgebiet nicht vergrössert oder besser vernetzt wird, werden viele dieser Arten demnächst aussterben.»
Für eine Trendumkehr müsste unsere Gesellschaft der Natur wieder mehr Platz einräumen und zwar nicht nur in Schutzgebieten, auch in Siedlungen, in der Landwirtschaft und vor allem in unseren Köpfen, betont Tester. «Wenn wir die Artenvielfalt auch für kommende Generationen erhalten wollen, müssen Schützen und Nutzen Hand in Hand gehen.» Genau das ist auch das Ziel der Biodiversitätsinitiative, über die die Schweizer Bevölkerung am 22. September abstimmen wird.