Ich begegne einem Wolf – und jetzt?
Irgendwie gemein: Manche Menschen versuchen jahrelang, einen Wolf in der Natur zu beobachten. Sie pirschen durch Wolfsreviere, harren stundenlang mit dem Fernglas in der Kälte aus – aber es will und will nicht klappen. Andere Menschen gehen mal eben auf einen Waldspaziergang oder sind beim Skifahren. Ganz überraschend und vielleicht mit mulmigen Gefühlen kreuzen sie einen Wolf.
Alle Emotionen sind ok
Manche Menschen freuen sich tierisch darüber, einen Wolf beobachten zu können. Andere Menschen empfinden Wölfe als bedrohlich und möchten jede Begegnung vermeiden. Beide Gefühlsregungen sind verständlich und völlig ok. Schwierig wird es, wenn diese Gefühle gegenseitig nicht akzeptiert werden. Ein häufiges Missverständnis auf Naturschutzseite besteht darin, Gefühlen von Angst und Unsicherheit sofort mit Fachinformationen («Wölfe greifen keine Menschen an!») begegnen zu wollen. Gefühle müssen ernst genommen werden. Wer Angst vor Spinnen, Schlangen, Wölfen oder irgendetwas anderem hat, braucht zuerst Verständnis, nicht Statistiken. Wird dieser Grundsatz missachtet, fühlt sich die von Ängsten verfolgte Person abgewertet und nicht ernst genommen. Das verunmöglicht jenen Dialog, der für die gute Nachbarschaft von Menschen und Wölfen in der Schweiz zentral ist.
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Die meisten Wölfe in der Schweiz leben in den Alpen, Voralpen und dem (südlichen) Jura. Einzeltiere können auf Wanderungen jedoch im ganzen Land auftauchen. (Nah-)Begegnungen sind selten. Im Winter halten sich Wölfe eher im Tal und damit in Menschennähe auf, weil auch ihre Beutetiere dort zu finden sind. Dann nutzen sie auch Forststrassen, weil die Fortbewegung dort leichter fällt als im tiefen Schnee. Am frühen Morgen oder in der Abenddämmerung, wenn die menschliche Aktivität gering ist, sind Wölfe eher auch in Siedlungsnähe unterwegs. Jägerinnen und Hirten kommen aufgrund ihrer Tätigkeiten eher mit Wölfen in Kontakt. Pilzsammler oder Orientierungsläuferinnen könnten Wölfe auch mal in der Nähe ihres Baus aufscheuchen. Die meisten Wölfe werden näherkommende Menschen bemerken und ausweichen, ohne dass es zu einer Begegnung kommt.
Wie mit jedem Wild- oder Haustier, kann es auch mit Wölfen zu Unfällen kommen. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Wolf angegriffen zu werden, ist jedoch verschwindend klein. Während jährlich in der Schweiz durchschnittlich zwei Menschen an Bienenstichen sterben, liegt in ganz Europa der letzte Todesfall durch einen wilden Wolf über 50 Jahre zurück. Aktuelle Zahlen lieferte 2020 eine Analyse der Norwegischen Instituts für Naturforschung (NINA). Demnach kommt es weltweit (!) jährlich zu rund 27 Wolfsangriffen auf Menschen, von denen im Schnitt 1,4 pro Jahr tödlich enden. Betroffen sind vor allem sehr ländliche Regionen Indiens, des Iran oder Anatoliens, wo natürliche Beute für Wölfe fehlt, offene Deponien sie in Menschennähe locken und Tollwut verbreitet ist.
Wölfe sind so individuell wie Menschen! Es gibt Draufgänger und schreckhafte Wölfe. Der Wolf ist ein Beutegreifer an der Spitze der Nahrungskette. Eine gewisse Neugier ist ihm eigen; er ist kein Fluchttier. Es gibt also einige bekannte zu erwartende Verhaltensmuster, zum Beispiel das Jagen flüchtender Beute oder die arglose Neugier von halbwüchsigen Jungwölfen. Die meisten Wölfe meiden die (nahe) Begegnung mit Menschen. Sie nehmen uns nicht als Beute wahr. Zudem waren und sind die vorwitzigsten Wölfe auch jene, die zuerst vom Menschen erlegt werden. Das heisst: Auch wenn ein Wolf Sie aus der Distanz erst einmal mustert und nicht sofort flieht, besteht kein Grund zur Sorge.
Wie verhalte ich mich richtig bei einer nahen Wolfsbegegnung?
Grundsätzlich ist die Gefahr, die von Wölfen in der Schweiz ausgeht, sehr klein. Denken Sie daran, falls Sie tatsächlich einmal einem Wolf begegnen sollten! Die Grundüberzeugung «es wird nichts passieren» beeinflusst Ihre Haltung, Ihre Stimme und Ihr Sicherheitsgefühl. Das hilft Ihnen, angemessen zu reagieren (Sie kennen das vielleicht von Begegnungen mit Hunden). Auch im Wolfsgebiet können Sie problemlos weiterhin allein spazieren, wandern oder reiten gehen. Bedenken Sie, dass die untenstehenden Informationen nur für den – seltenen – Fall einer nahen Wolfsbegegnung relevant sind. Wenn Sie Kinder haben, die allein in der Natur unterwegs sind, teilen Sie diese Informationen mit Ihren Kindern.
Verhalten Sie sich selbstbewusst, machen Sie sich gross, klatschen Sie in die Hände, rufen Sie laut. Sollte der Wolf nicht weglaufen oder wenn Sie sich unwohl fühlen, ziehen Sie sich langsam zurück und behalten Sie den Wolf im Auge. Rennen Sie nicht! Folgt Ihnen der Wolf (was ein neugieriges Jungtier tun könnte), dann verschaffen Sie sich Nachdruck: barsche Stimme, anschreien, mit Schirm oder Stock fuchteln. Wenn es Ihnen dabei wohl ist, können Sie auch einen Schritt auf den Wolf zugehen, dürfen ihn aber keinesfalls in die Enge treiben.
Es gelten dieselben Regeln wie für Fussgänger:innen. Halten Sie an und beobachten Sie, was das Tier als Nächstes tut. Stellen Sie Ihr Velo zwischen sich und das Tier. Zeigt der Wolf als Reaktion auf Ihre schnelles Herankommen Interesse oder Anpirschverhalten (Fixierblick, geduckte Körperhaltung), klatschen Sie, rufen Sie.
Wölfe können insbesondere freilaufende Hunde als Beute, Konkurrent oder (selten) Spiel- und Sexualpartner betrachten. Es ist daher wichtig, dass Hunde im Wolfsgebiet unter Kontrolle bleiben, also sicher abrufbar oder an der Leine. Weckt ein (angeleinter) Hund das Interesse eines Wolfes und nähert sich dieser, sollte der Hund direkt hinter den Menschen gebracht werden. Im Übrigen gelten die Empfehlungen von oben (sich gross machen, rufen, mit Stock oder Schirm drohen). Drohgebärden des Wolfes in einer solchen Situation richten sich gegen den Hund, nicht gegen Sie! Wölfe (auch Rüden) sind nur während einer kurzen Zeit im Winter fortpflanzungsfähig. Dennoch sollten läufige Hündinnen besonders unter Aufsicht gehalten werden, bis die Läufigkeit vorbei ist. Im Ernstfall (Angriff eines Wolfs auf einen angeleinten Hund oder einen Hund in Ihrer Nähe) versuchen Sie auf keinen Fall, dazwischen zu gehen.
Wildtiere reagieren anders auf ein Pferd mit Reiter als auf eine Spaziergängerin allein. Auch Wölfe nehmen Reiter:in und Pferd vielmehr als Einheit wahr. Wittert er den Menschen, zieht er sich höchstwahrscheinlich zurück. Pferde sind sehr wehrhafte Fluchttiere. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sie von Wölfen angegriffen werden. Wichtig ist, dass Reitpferde im Wolfsgebiet an freilaufende Hunde und viele andere Umweltreize gewöhnt sind, damit sie nicht panisch reagieren. Pferde reagieren sensibel auf die Führung durch «ihren» Menschen. Wichtig ist also, wie Sie sich verhalten. Ob Sie im Fall einer Wolfsbegegnung absteigen oder nicht, hängt davon ab, wie gut sich Ihr Reittier kontrollieren lässt. Als Reiter:in verzichten Sie darauf, in die Hände zu klatschen oder zu rufen, um das Pferd nicht zu irritieren. Je nachdem, wie Sie Ihr Pferd einschätzen, reiten oder gehen Sie langsam und in gebührender Entfernung am Wolf vorbei, oder sie kehren um. Sprechen Sie dabei mit Ihrem Pferd, damit auch die Wölfe die menschliche Stimme hören.
Weiterführende Informationen:
- Amt für Jagd und Fischerei Graubünden, Merkblätter Wolf und Bär
- Bloch, G. & E. Radinger (2017): Der Wolf kehrt zurück. Mensch und Wolf in Koexistenz (Mit Tipps für Hundehalter, Spaziergänger und Reiter). Kosmos Verlags-GmbH & Co., Stuttgart
- Gruppe Wolf Schweiz: Gefährlichkeit für Menschen - Gruppe Wolf Schweiz