Lolas Wunsch Titelbild Silvia Fux

Eine Pro Natura Weihnachtsgeschichte

Erleben Sie mit, wie die Ziege Lola neue Orte entdeckt und lernt, dass sie Grosses bewirken kann. Lassen Sie sich verzaubern und helfen Sie mit einer Spende, dass die Weihnachtsgeschichte wahr wird!

Lolas Wunsch

Schon immer hatte Lola das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Nicht auf eine eingebildete Art und Weise; im Gegenteil, ihr selbst ist dieser Gedanke eher unangenehm. Oder peinlich. Vor anderen würde sie es nie laut aussprechen. Doch Lola spürt, dass sie einmal Grosses bewirken wird. So wie Rosa Parks. Oder Jane Goodall. Oder Patty Smith. Aber das sind ja alles Menschen! Ihr müsst wissen, wenn Lola ihren Mund öffnet, dann klingt das für Menschen wie ein «Määäh». Richtig, Lola ist eine Ziege. Doch Lola hat schon immer gerne zugehört. So spitzt sie die Ohren, wenn sich Wandergruppen neben ihrer Weide über Schimpansen in Tansania unterhalten. Aber Ziegen hören nicht nur Geschichten. Sie erleben sie auch.

 

Teil 1: Lola und die einsame Orchidee

Lola blickt mit ihren Ziegenaugen aus dem Stallfenster in die Ferne. Seit ein paar Tagen bedeckt eine glitzernde Schneeschicht die umliegenden Wiesen und Hügelketten. Aus dem nahegelegenen Bauernhaus erklingen Weihnachtslieder. Der Duft von frischgebackenen Weihnachtsguetzli erfüllt die Luft. Lola liebt es, die Welt um sie herum zu beobachten. Selbst als die Nacht hereinbricht, bleibt Lola am Fenster stehen. Da huscht eine Sternschnuppe vorbei. Oh, ich darf mir etwas wünschen, denkt sich Lola erfreut. Sofort leuchtet das Bild einer Orchidee in Lolas Kopf auf. Ich vermisse Vera! Ich wünschte, ich könnte sie besuchen. Lola lernte Vera, die Orchidee, im vergangenen Frühling auf ihrer Weide kennen. Damals wusste Lola noch nicht, dass sie an diesem Ort Grosses vollbringen würde. Mit funkelnden Augen denkt Lola an ihr erstes Treffen mit Vera zurück.  

Im Frühling stand Lola gemeinsam mit einer 25-köpfigen Ziegenherde vor ihrem neuen Zuhause. Doch wo Lola eine gewöhnliche Weide erwartet hatte, sah sie eine Landschaft voller Brombeerranken, Sträucher und Büsche. Die gesamte Fläche war so zugewachsen, dass man sie kaum begehen konnte. Für Lola eine ungewohnte Umgebung. Umso stärker war ihr Drang, den Ort zu erkunden. Unbeirrt von den kratzenden Ästen, zwängte sich Lola von einem Strauch zum nächsten und zupfte begeistert an den saftigen Trieben. Sie setzte zum Sprung an und landete elegant neben einem Dickicht aus Weiss- und Schwarzdorn.  

«Vorsicht!»  

Huch, wer ist das? Lola blickte verwirrt um sich.  

«Ich bin hier unten», erklang die zarte Stimme erneut. Auf einem Grasfleck inmitten des Dickichts schimmerten die verblassten Blüten einer Orchidee. Auf ihren welken Blättern deuteten wenige Stellen eine violette Färbung an. Sie muss einmal wunderschön gewesen sein. Was wohl mit ihr passiert ist? Lola senkte den Kopf und bemerkte: «Tut mir leid. Ich hätte dich fast übersehen. Wie geht es dir da unten?»  

Da sagte die Orchidee traurig: «Mir fehlt es an Energie.»  

«Woher kriegst du denn deine Energie?»  

«Von der Sonne.»  

Lola blickte zum Himmel auf. Die Sonne versteckte sich an jenem Nachmittag hinter einer dichten Wolkenschicht. «Ich wünschte, ich könnte dir helfen.»  

«Es würde mich freuen, wenn du mir eine Weile Gesellschaft leisten könntest.»  

«Klar.» Doch Lola wusste gar nicht genau, wie das funktionierte. Was bedeutet es, jemandem Gesellschaft zu leisten?  

Vera riss sie aus ihren Gedanken. «Was siehst du von da oben?»  

Eine einfache Frage. «Ich sehe viele Büsche. Einen grauen Himmel. Und die Hügel rundherum.»  

Vera schien unzufrieden mit der Antwort. «Nimm dir einen Moment Zeit. Schau ganz genau hin. Und sag mir dann noch einmal, was du siehst.»  

Was möchte diese Orchidee denn von mir hören? Lola schaute. Nach einer Weile fiel ihr einiges auf. «Ich sehe ein Meer aus Büschen, deren Äste sich ineinander verschlingen. Das sieht aus wie ein Labyrinth. Im Schatten der Büsche erkenne ich nicht viel. Doch, da! Eine kleine, grüne Raupe. Sie hat viele feine Härchen. Oh, und da oben am Himmel zieht eine Gruppe Schwalben an den Wolken vorbei.» Da tropfte es auf einmal auf Lolas Nase. Sie hob den Kopf und konnte beobachten, wie ein weiterer Regentropfen vom Himmel fiel. Noch nie zuvor hatte sie dem Regen bei seiner Reise zur Erde zugesehen. «Die Regentropfen fliegen ja ganz langsam. Ich kann sie alle fallen sehen, Vera!»  

Ein Zaunkönig, angelockt vom munteren Gespräch, setzte sich mit gestelztem Schwanz auf ein Ästchen und lauschte.  

«Du bist ein Naturtalent im Beobachten, Lola!»  

«Was siehst denn du von dort unten, Vera?», wollte nun Lola wissen. «Leider nicht so viel. Früher, da konnte ich hier meinen Blick in die Ferne schweifen lassen. Ich sah die Konturen der Hügelzüge, das Spiel der Wolken. Die Sonne wärmte mich. Ich konnte stundenlang den tanzenden Schmetterlingen zuschauen. Einzelne Kühe kamen vorbei und wir waren viele Orchideen. Ich war nie allein. Doch dann kamen die ersten Büsche. Meine Orchideenfreundinnen verschwanden nach und nach. An meinem Plätzchen wurde es immer enger und dunkler.»  

Lola wollte etwas erwidern und mehr erfahren. Der Zaunkönig aber mochte keine traurigen Geschichten. Er verkündete deshalb mit einem jubilierenden Triller, dass er gute Neuigkeiten habe. Auf seinen Rundflügen lauschte er öfters den Gesprächen der Menschen. In den vergangenen Monaten waren hier immer wieder Leute, die von «Arteninventaren» sprachen. Dieses Wort hatte er aufgeschnappt, ohne es zu verstehen. Die Menschen hätten festgestellt, dass es hier nicht mehr so viele Pflanzen und Tiere gebe wie früher. Jedenfalls sagten die Menschen auch, dass sie die Weide wieder aufblühen lassen wollen. Mit der Hilfe von Ziegen. Das wunderte Lola. Was, mit meiner Hilfe? Aber was soll ich denn ändern? 

Lola und die Orchidee
Teil 2: Die Weide lebt 

Wie jedes Jahr hängt der Bauer am zweiten Adventssonntag einen Weihnachtsstern aus Stroh über die Scheunentür. Lola weiss nicht recht, wieso er das macht. Ihr sticht aber der lange Schweif des Sterns ins Auge. Dieser Anblick bringt sie in Gedanken sofort wieder auf die Weide in jener Sommernacht.   

Nachdem Lola am Nachthimmel begeistert auf einen fliegenden Stern mit Schweif gezeigt hatte, erklärte Vera ihr, dass das eine Sternschnuppe sei. Und das Beste: Wenn man eine sehe, dürfe man sich etwas wünschen. Jedoch erklärte Vera nicht, dass man das für sich im Stillen tun sollte. Also verkündete Lola lauthals: «Ich möchte eine besondere Ziege sein und die Welt verändern.»   

Was Vera daraufhin sagte, beschäftigt Lola noch heute. «Du bist gerade dabei, die Welt zu verändern. Mit jedem Busch, dessen Zweige und Blätter du frisst, gelangt mehr Licht auf den Boden. So schaffst du Platz für Neues. Hast du schon gemerkt, dass mich die Sonne wieder erreicht und dass dort drüben zwei weitere Orchideen aufgetaucht sind? Sobald die verschiedenen Blumen zurückkommen, kommen auch wieder mehr Tiere. Siehst du die Heuschrecken und Schmetterlinge? Und darüber freuen sich die Vögel. Und schau, ich bin nicht die Einzige, die gerne Licht hat. Dort hinten sitzt Edi, die Zauneidechse. Ihn habe ich hier schon ewig nicht mehr gesehen.» Tatsächlich: Edi sonnte sich auf einem nahen Steinhaufen und grüsste freundlich. Diesen Steinhaufen hatte eine Gruppe von Menschen mit Steinbock-T-Shirts errichtet. Sie hatten auch viel gesägt und Äste aufgeschichtet, um Verstecke zu schaffen. Lola war begeistert, dass auf dieser Weide Mensch und Tier gemeinsam etwas verändern wollten. 

Der Bauer sah, dass die Arbeit der Ziegen Früchte trug. Daher brachte er Mitte Sommer noch eine zweite Ziegengruppe auf die Weide. So lernte Lola Max kennen. Lola hatte noch nie eine andere Ziege getroffen, die genauso gerne neue Orte erkundete wie sie. Sie nahm Max überall hin mit und führte ihn zu den besten Haselsträuchern. Sie zeigte ihm auch, wie man sich einen Moment Zeit nahm, um seine Umgebung wirklich wahrzunehmen. So, wie sie es von Vera gelernt hatte. Max fiel es normalerweise schwer, stillzustehen und ruhig zu bleiben. Doch Lola zuliebe liess er sich darauf ein.  

«Weisst du Max, ich habe gemerkt, dass es wirklich wichtig ist, was wir hier tun. Es freut mich im Herzen, dass auf dieser Weide mehr und mehr Leben zurückkehrt, seit wir die Büsche fressen.»   

«Mir ist nie aufgefallen, was alles um mich herumfliegt, kriecht und springt. Aber es ist wirklich ein schöner Fleck hier, Lola.»   

Man kann eben nur schützen, was man sieht und liebt. Lola fand, es war Zeit, dass sich Max und Vera kennenlernten. Doch ein ohrenbetäubendes Krächzen unterbrach ihr Vorhaben. Der benachbarte Eichelhäher schlug Alarm: Ein Luchs! Ein Luchs am Waldrand!  

Edi und die Ziegen

Teil 3: Ein Wunsch geht in Erfüllung

In den sicheren vier Wänden des Stalls denkt Lola an die Begegnung mit dem Luchs zurück. Sie legt den Kopf über Max‘ Rücken, der neben ihr liegt. «Weisst du noch letzten Sommer, als du dem Luchs gegenüberstandest?» In Lolas Gedanken tauchen wieder die die grüne Weide und die gelb leuchtenden Luchsaugen auf.  

 Nach den Alarmrufen des Eichelhähers breitete sich Panik aus. Die gesamte Ziegenherde stürmte weg vom Waldrand. Alle, ausser Max. Er steuerte geradewegs auf den Luchs zu. Schliesslich war er noch nie einem Luchs begegnet! Lola rannte ihm, ohne nachzudenken, nach. Als sie dem Luchs näherkamen, rammte Lola ihre Hufe in den Boden und rief laut: «Stopp, Max!»   

Doch Max stand dem Luchs direkt gegenüber. Er starrte ihn an. Nur wenige Meter trennten sie. «Woher kommst du?», fragte Max den Luchs. «Und was machst du hier?», fügte er hinzu.   

Der Luchs machte keine Anstalten, sich zu bewegen, geschweige denn Max zu antworten.   

Lola verfolgte die Situation verstört. Wieso spricht Max mit dem Luchs? Ich habe solche Angst vor Luchsen!   

Max hingegen fragte unbeirrt weiter: «Meinst du, uns steht ein harter Winter bevor?» Der Luchs und Max schauten sich an. Max konnte seinen Blick gar nicht mehr abwenden. Der Luchs ist ein wunderschönes Wesen, dachte er. Gleichzeitig merkte er, wie er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Sein Körper war erstarrt. Konnte man denn gleichzeitig Angst und Bewunderung empfinden? Max konnte seinen Gedanken kaum zu Ende denken, als der Luchs auf leisen Pfoten wieder im Wald verschwand.   

Ziegen und der Zaun Silvia Fux

«Max, das war total dumm! Das hätte böse enden können», entrüstete sich Lola.   

Da deutete Max mit seinem Kopf Richtung Waldrand. «Ich sah es erst im Nachhinein, aber wir sind vor ihm sicher, Lola. Siehst du den Zaun, den die Menschen zu unserem Schutz errichtet haben?» Sie sah den Zaun. Alle fünf Meter ein stabiler Holzpflock mit fünf dicken Drähten dazwischen. Der Zaun hält die Luchse fern, dachte Lola beruhigt, aber...   

«Er hält uns auch davon ab, dass wir je diese Weide verlassen», ergänzte Max ihren Gedanken etwas wehmütig. «Ich würde zu gerne diesen Wald kennenlernen.»   

Nach all der Aufregung knurrte unverhofft Lolas Magen. «Nein, Max. Ich glaube, bevor wir neue Welten erkunden, haben wir hier noch viel zu tun. Wir haben eine Aufgabe auf dieser Weide. Lass uns ein paar Büsche vernaschen, damit Vera wieder viele Orchideenfreundinnen hat und die Schmetterlinge flattern und die Heuschrecken hüpfen!»     

Lola seufzt und öffnet die Augen. Sie ist wieder im Hier und Jetzt, in ihrem Winterquartier. «Ich vermisse Vera», murmelt Lola in Max‘ raues Fell. «Es war schön, ihre Blütenblätter in der Sonne leuchten zu sehen. Warum musste der Winter kommen?»   

«Freuen wir uns auf den nächsten Frühling. Wir werden Vera und ihre Freunde wiederfinden.»   

Durchs Stallfenster erblickt Lola den Sternenhimmel. Sie braucht heute keine Sternschnuppe. Ihr Wunsch hat sich erfüllt. Sie hat etwas Besonderes erlebt und dazu beigetragen, eine kleine Welt, die Welt dieser Weide, zu verändern.   

Ziegenprojekt
Ziegen im Dienst der Natur

Seit Jahren verbuschen in Crémines BE zwei magere Weiden. Die artenreichen Flächen wurden kaum noch genutzt. Wir wollen diese aussergewöhnlichen Biotope retten und haben dazu ein Weideprojekt mit Ziegen gestartet.