Vom Lebenselixier zum Biodiversitätskiller
Stickstoff ist ein Lebenselixier: Ohne ihn gäbe es keine höheren Tiere und Pflanzen, und natürlich auch keine Menschen. Alle wichtigen Lebensprozesse werden von Substanzen gesteuert, die Stickstoff enthalten. Aminosäuren etwa und somit auch Proteine basieren auf Stickstoff. Ebenso die DNA, die Trägerin der Erbinformationen. Oder das Molekül Chlorophyll, das den Pflanzen ihre grüne Farbe verleiht und sie aus Sonnenlicht Energie gewinnen lässt.
Allerdings können Pflanzen und Tiere nicht jede Form von Stickstoff verwerten. Mit elementarem Luftstickstoff, der vier Fünftel der Atmosphäre ausmacht, können die meisten Lebewesen nichts anfangen. Nur Stickstoff in Form von Nitrat, Harnstoff, Aminosäure oder anderen Verbindungen ist für sie nutzbar.
Blitze und Vulkane brachten Stickstoff
Lange Zeit waren Blitze und Vulkanausbrüche die einzigen Prozesse, die zur Entstehung von bioverfügbarem Stickstoff führten. Durch die hohen Energieeinschüsse wurden die beiden fest miteinander verbundenen Atome des Luftstickstoffs (N2) aufgespalten und konnten neue Verbindungen beispielsweise mit Sauerstoff eingehen. Mit dem Regen gelangten diese schliesslich in den Boden. Allerdings in geringem Ausmass.
Bis es vor ca. 2,5 Milliarden Jahren einigen Bakterienarten gelang, Luftstickstoff zu binden und für sich nutzbar zu machen. Den überschüssigen Stickstoff gaben sie in den Boden ab, wo ihn andere Organismen aufnahmen. So entstand ein weitgehend geschlossener Kreislauf, in dem Stickstoff in verschiedenen chemischen Formen zwischen Boden, Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen wanderte. Unzählige Male wurde er in der Erdgeschichte von Lebewesen in ihren Organismus eingebaut und wieder ausgeschieden.
Die Revolution: Ammoniak
Mit der industriellen Revolution begann der Mensch, diesen Kreislauf aufzubrechen. Bei der massenweisen Verbrennung von Kohle, Holz, Gas und Erdöl entstanden riesige Mengen an Stickoxiden (NOx), die über die Luft in die Ökosysteme drangen. Vollends durcheinander geriet der Kreislauf, nachdem es den Chemikern Fritz Haber und Carl Bosch um 1910 gelungen war, aus Luftstickstoff und Wasserstoff bioverfügbaren Stickstoff (Ammoniak) zu gewinnen. Ihr Verfahren ermöglichte es, den unerschöpflichen Vorrat an Luftstickstoff anzuzapfen und industriell Kunstdünger herzustellen.
Der Einsatz von synthetischen Düngern hat allerdings gravierende Nebeneffekte. Denn die Pflanzen verwerten nur einen Teil der Düngemittel und geben den Rest an den Boden ab, wo er von Mikroorganismen umgewandelt wird. Im Pro Natura Magazin schildern wir, welche Auswirkungen der übermässige Stickstoffeintrag auf verschiedene Lebensräume hat.
Stickstoff verflüchtigt sich aus Gülle
Zugleich treibt der Kunstdünger den weltweiten Anbau von Kraftfutter voran, was in Importländern mit hohen Tierbeständen wie der Schweiz zu einem riesigen Überschuss an organischen Düngern führt und ein weiteres Problem schafft: Wenn Harn mit Kot und Luft in Kontakt kommt – im Stall, beim Lagern und beim Ausbringen auf den Feldern – verflüchtigt sich fast die Hälfte des darin enthaltenen Stickstoffs in Form von Ammoniak. Dieser gelangt über die Atmosphäre früher oder später in die Böden auch weit entfernter Lebensräume und bringt dadurch Pflanzen, die an eine geringe Nährstoffversorgung angepasst sind, wie etwa Moor- oder Trockenwiesenspezialisten, zum Verschwinden und die Waldbäume ins Taumeln.
Luftdünger aus Verbrennungsmotoren
Auch die Stickstoffemissionen von Motorfahrzeugen, Industrie und Heizungen tragen via Luft zur Überdüngung und Versauerung von Böden bei, diese machen rund ein Drittel des „Luftdüngers“ aus. Dank neuer Dreiwegkatalysatoren konnte der Ausstoss von Stickoxiden in der Schweiz zwischen 1990 und 2010 um 47 Prozent verringert werden.
Seither aber sinkt die Konzentration in der Luft kaum noch, wahrscheinlich wegen der starken Zunahme von Dieselfahrzeugen. Die Ammoniak-Emissionen der Landwirtschaft verharren gar seit Jahrzehnten auf zu hohem Niveau, sie überschreiten die vom Bund festgelegten Zielwerte um fast das Doppelte.
Grundproblem wird kaum angegangen
Bund und Kantone wollen primär mit Beratungen und technischen Massnahmen (z.B. Schleppschläuche, Gülledrill) gegensteuern, doch das grundsätzliche Problem – der zu hohe Tierbestand – wird kaum angegangen. Als Folge davon produziert die Schweizer Landwirtschaft seit Mitte der 1990er-Jahre einen Stickstoffüberschuss von rund 100‘000 Tonnen pro Jahr. So viel Stickstoff gelangt in sensible Ökosysteme, wo er grosse Schäden und – ungedeckte – Kosten verursacht. In der Beantwortung einer parlamentarischen Interpellation gab der Bundesrat im Jahr 2016 an, dass in der Schweiz die externen Kosten für negative Auswirkungen aller Stickstoffemissionen auf unsere Gesundheit und die Umwelt im Bereich von 860 bis 4300 Millionen Franken pro Jahr liegen.
Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Zwar gehen die Rindvieh- und Schweinebestände seit einigen Jahren leicht zurück, gleichzeitig aber legt die Geflügelmast stark zu: Seit 1985 hat sich die Zahl der Mastplätze in der Schweiz verdreifacht. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) erwartet deshalb bis 2020 eine «markante Zunahme an Stickstoffimporten» (Kraftfutter). Eine deutliche Stickstoffreduktion lässt sich nur erreichen, wenn die Tierbestände massiv gesenkt werden und anstelle der Intensivmast eine graslandbasierte Fleisch- und Milchproduktion gefördert wird.
NICOLAS GATTLEN, Redaktor Pro Natura Magazin
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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