Interview: «Wir brauchen mehr natürliche Rückhalteräume»
Pro Natura Magazin: Wenn davon gesprochen wird, wie natürlicherweise mehr Kohlenstoff gespeichert werden kann, ist meistens von Aufforstung die Rede. Doch kann der Atmosphäre auch CO2 entzogen werden, indem man Gewässer revitalisiert?
Christine Weber: Viele Leute denken, dass revitalisierte Gewässer nur Wasserlebewesen zugutekommen. Erfolgreiche Gewässerrevitalisierungen beeinflussen aber auch das Land, das die Gewässer umgibt. Dort wird eine vielfältige Ufervegetation gefördert; es können sich Weichholzauen und mit genügend Zeit und Raum auch Hartholzauenwälder entwickeln, die wie eine Aufforstung auch CO2 binden können.
Erhitzen revitalisierte Fliessgewässer auch weniger stark als begradigte Flüsse?
Bei vielen Revitalisierungen wird während der Bauarbeiten Vegetation entfernt, um dem Gewässer Raum zu geben. Dadurch wird es zuerst sonnenexponierter. Doch rasch entwickelt sich eine gewässertypische Ufervegetation, die Schatten spendet. Zudem sind revitalisierte Gewässer besser mit dem kühleren Grundwasser vernetzt. Es entstehen mosaikartige Strukturen mit unterschiedlichen Tiefen, Temperaturen, Dynamiken, wie das bei begradigten Flüssen nicht der Fall ist.
Und finden in diesem Mosaik auch Arten Zuflucht, die von den Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen sind?
Ja, naturnahe Gewässer sind elastischer gegenüber Veränderungen. Sie bieten aufgrund ihrer Vielfalt unterschiedliche Lebensräume für Arten mit unterschiedlichen Ansprüchen – gerade auch für Arten, die in eintönigen kanalisierten Gewässern keine Habitate mehr finden.
Bieten naturnahe Flüsse auch besseren Schutz bei Extremereignissen?
Das ist ein wichtiger Punkt: In monotonen Gewässern bestehen bei Hochwassern und Trockenphasen kaum Refugien, also zum Beispiel strömungsgeschützte Rückzugsräume für Wasserlebewesen. Dieser Aspekt wird mit fortschreitendem Klimawandel immer bedeutender.
Weshalb?
Unser Wasserhaushalt wird sich in den nächsten Jahrzehnten massiv verändern. Die Gletscher schmelzen weg, die Schneemenge verringert sich, Starkniederschläge nehmen zu, ebenso die Trockenheitsphasen. Dies führt zu regenreicheren Wintern und trockeneren Sommern. In früheren Jahrzehnten war es das Ziel, Wasser möglichst rasch aus der Landschaft abzuführen. Das wird sich fundamental ändern: Wir werden das Wasser zukünftig besser im System zurückbehalten müssen. Wir brauchen mehr natürliche Rückhalteräume, einerseits zwecks Hochwasserschutz, andererseits als Wasserspeicher bei Trockenheit.
Sie sprechen es an: Gerade wegen des Klimawandels erhöht sich der Druck zur weiteren Nutzung unserer Gewässer, etwa zur landwirtschaftlichen Bewässerung oder zur industriellen Kühlung. Befinden wir uns hier in einer Teufelsspirale?
Unsere Gewässer sind nicht nur wichtige Lebensräume, sondern haben als Naherholungsräume auch eine zentrale gesellschaftliche Funktion und sind hinsichtlich Bewässerung, Trinkwasserproduktion und Hochwasserschutz auch wirtschaftlich höchst relevant. Ausserdem schreibt das Gewässerschutzgesetz vor, die natürlichen Funktionen der Gewässer zu sichern. Hier hat die Schweiz grossen Nachholbedarf; 16 000 Fliessgewässerkilometer befinden sich in einem sehr schlechten Zustand. Wegen all dieser Punkte braucht es einen umfassenden Blick, wenn nun zusätzliche Nutzungsintensivierungen ins Auge gefasst werden.
Gilt das auch für die Wasserkraft? Auch hier erhöht sich als Folge des Klimawandels der ohnehin schon grosse Nutzungsdruck.
Unsere Fliessgewässer sind bereits sehr stark genutzt und produzieren einen bedeutenden Teil der inländischen Elektrizität. Ihre Wassermengen und deren jahreszeitliche Verteilung werden sich mit dem Klimawandel deutlich verändern. Auch hier müssen wir deshalb aufpassen, nicht nur einen Aspekt stark zu gewichten, sondern integral und längerfristig all die wichtigen Leistungen der Gewässer zu berücksichtigen.
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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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