Marco Scisetti Marco Scisetti
04.01.2023 Gewässer

Giftspuren im Schnee

Vielen Langlauf- und Skibegeisterten ist nicht bewusst, dass über den Wachsabrieb giftige Chemikalien in die Umwelt gelangen. Einige dieser Stoffe reichern sich in Böden, Gewässern und Organen von Tieren und Menschen an. Das liesse sich vermeiden: Heute gibt es gute, umweltverträgliche Wachse.

Am 12. März ist es wieder so weit: Rund 14 000 Langlaufbegeisterte schnallen sich in Maloja die Ski an und fiebern dem Start des «Engadiner» entgegen. 42 Rennkilometer liegen vor ihnen: eine langgezogene Skating-Strecke über drei zugefrorene Seen, gefolgt von kurzen Aufstiegen und einer langen Abfahrt nach ­S-chanf. In die Vorfreude mischt sich am Start die Sorge, ob man richtig gewachst hat und konkurrenzfähig ist. Das Arsenal an verfügbaren Hilfsstoffen ist immens und die Auswahl nicht einfach zu treffen. Immerhin eine Gewissheit gibt es in der Szene: Fluorwachse sind – gerade bei nassen Bedingungen und schmutzigem Frühahrsschnee – allen anderen Produkten überlegen. Kein anderer Wirkstoff weist Wasser und Schmutz (Pollen, Feinstaub) derart gut ab und lässt die Ski so schön gleiten.

Allerdings haben die Fluorcarbone ihre Schattenseiten: Sie sind giftig und bauen sich kaum ab. 2011 wies die schwedische Umweltwissenschaftlerin Merle Plassmann nach, dass Fluorwachse über Abrieb in die Umwelt gelangen. Sie hat Schnee auf den Loipen des «Wasalaufs» auf PFOA (Perfluoroktansäure)-Rückstände untersucht und fand besonders hohe Konzentrationen davon im Startbereich und auf den ersten Kilometern. Kurz darauf stellten Forschende in einem Skigebiet im norwegischen Trondheim hohe PFOA-Konzentrationen in Erdproben und ­Würmern sowie in der Leber von Waldwühlmäusen fest. Die Konzentrationen erreichten zwar kein toxisches Level, doch warnten die Forschenden, dass sich die PFOA weiter oben in der Nahrungskette (z. B. Fuchs, Wolf, Greifvögel) noch stärker anreichern.

«Hotspot» Silsersee

Die Meldungen aus dem hohen Norden weckten bei Radi ­Hofstetter, Präsident des Bündner Fischereiverbands, einen Verdacht: Lange war ihm rätselhaft, warum in den Engadiner Seen heute etwa 80 Prozent weniger Fische gefangen werden als noch vor zwanzig Jahren. Sind womöglich giftige Wachsrückstände auf den Seeloipen schuld? Hofstetter gab zusammen mit dem ­«K-Tipp» 2020 eine Untersuchung in Auftrag: Die Stichprobe in vier Engadiner Seen ergab, dass in 13 von 44 untersuchten ­Fischen PFOA vorhanden war. Am stärksten betroffen waren die ­Fische aus dem Silsersee, Start­gebiet des «Engadiners»: Dort wies fast jeder zweite Fisch PFOA auf. Im «K-Tipp» bezeichnet die Umwelttoxikologin Joëlle Rüegg von der Universität Uppsala in Schweden die nachgewiesenen Werte bei den Fischen als «extrem hoch». Dass die PFOA für den Fischrückgang verantwortlich sind, ist damit aber nicht bewiesen.

Aufgeschreckt vom Medienecho, startete der Kanton Graubünden eine eigene Untersuchung in drei Seen: Lago Bianco, Lago Crocetta und Silsersee. Dabei wurden bei 83 Prozent der untersuchten Fische Spuren von Fluorverbindungen (PFAS, siehe Box) in der Leber festgestellt: in «geringfügigen Konzen­trationen», wie man sie auch bei ­Fischen im Genfer- oder Bodensee finde. Die in Skiwachsen verwendete und als besonders giftig geltende Untergruppe der PFOA aber stellte man nur bei Fischen im Silsersee fest (10 von 40) – ein klarer Hinweis auf den Langlaufsport, denn auf dem Lago Crocetta und dem Lago Bianco werden keine Loipen gezogen. Wie die Stoffe auf die ­Fische wirken, lasse sich nicht genau abschätzen, sagt der kantonale Fischerei-Chef Marcel Michel. «Von einer akuten Schädigung ­gehen wir nicht aus. Chronische Belastungen, die sich negativ auf die Reproduktion und das Wachstum auswirken können, sind aber nicht auszuschliessen.»

 Angela Peter Angela Peter
Die in Skiwachsen verwendete und als besonders giftig geltende Untergruppe der PFOA aber stellte man nur bei Fischen im Silsersee fest.
Infobox: Der ganze Planet ist mit PFAS kontaminiert

Es gibt heute keine Region mehr, die frei ist von PFAS-Chemikalien. Die Stoffe gelangen über die Luft und den Regen selbst in die -Antarktis und ins Tibetische Hochland. PFAS sind Kohlenwasserstoffverbindungen, bei -denen die Wasserstoffatome vollständig oder teilweise durch Fluoratome ersetzt wurden. Aufgrund ihrer wasser-, fett- und schmutzabweisenden Eigenschaften werden sie -beispielsweise in Skiwachsen, Outdoorjacken, Imprägniersprays, Kettenfetten und Kosmetika verwendet. Das Fatale an den Stoffen ist ihre Stabilität: Weder Mikroben noch Sonnenlicht können sie knacken. PFAS, die etwa aus Produkten, Fabrikschloten und Abwässern in die Umwelt gelangen, bleiben dort für Jahrzehnte. Sie reichern sich in Böden und Gewässern an, aber auch in den Organen von Tieren und Menschen, wo sie kaum abgebaut und ausgeschieden werden. Zwar wirken PFAS nicht akut giftig, doch ist bekannt, dass zumindest einige Vertreter zahlreiche gesundheitliche Schäden auslösen können. Die zwei giftigsten Klassen (PFOA, PFOS) sind heute in vielen Ländern verboten, doch weicht die Industrie auf andere, weniger gut untersuchte PFAS aus und wehrt sich vehement gegen die jüngsten Vorschläge aus EU-Gremien, die ganze Stoffgruppe aus dem Verkehr zu ziehen.

Verbot und Ausweichmanöver

In der EU wird PFOA als krebserzeugend und fortpflanzungs­gefährdend eingestuft. Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat die Stoffgruppe als krebserregend taxiert. Weil die Stoffe lange in Organismen bleiben und sich dort anreichern, lässt sich – im Unterschied zu rasch verfallenden Giftstoffen – keine «sichere Expositionsgrenze» angeben. Die EU hat die Verwendung von PFOA deshalb 2020 verboten; die Schweiz folgte ihr ein Jahr später. Damit waren die Wachshersteller gezwungen, Alternativen zu finden. Viele Produzenten stiegen einfach auf andere organische Fluorver­bindungen um: Statt C8-Chemie (PFOA) nutzen sie nun kurz- und längerkettige Verbindungen (C4, C10 etc.). Das deutsche Umweltbundesamt warnt allerdings, dass diese genauso langlebig und mobil seien, und gab Studien zur ­Toxizität in Auftrag.

Der internationale Skiverband (FIS) hat für die Saison 2022/23 ein vollständiges Verbot von Fluorwachsen erlassen. Auslöser für den Entscheid war der Tod einer nor­wegischen Betreuerin, deren ­Gesundheit durch jahrelanges ­Skiwachsen geschädigt gewesen sein soll. Für den Breitensport aber gilt die Selbstverantwortung. Wer fluorfreie Wachse kaufen will, ­findet heute ein breites Angebot.

Genau hinschauen

Allerdings ist auch bei den fluor­freien Wachsen Vorsicht geboten: «Als Ersatz für florierte Verbindungen werden häufig Stoffe eingesetzt, die alles andere als unbedenklich sind», erklärt der Chemiker Peter Bützer, ehemals Dozent an der ETH und heute Consultant für Risiko­management. Da die Hersteller ­weder auf den Verpackungen noch bei den Sicherheitsdatenblättern die verwendeten Stoffe angeben, hat Bützer die Patentliteratur durchforstet. «Da finden sich ­viele giftige und umweltschädliche Substanzen wie Siloxane, Gallium, Molybdändisulfid, Bornitrid, Nanopartikel und Mikroplastik, aber auch etliche Substanzen, die völlig ungenügend charakterisiert sind. Erst wenn die Wachshersteller ihre Rezepturen mit all den notwendigen Nachweisen für geringe Giftigkeit und ­minimale Auswirkungen auf die Umwelt offenlegen, kann man den Produkten vertrauen.»

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Der internationale Skiverband (FIS) hat für die Saison 2022/23 ein vollständiges Verbot von Fluorwachsen erlassen.

Mit «Isantin» hat Peter Bützer eine eigene Wachslinie für Langlauf-, Touren- und Alpinski entwickelt. Das Wachs basiert auf dem Pflanzenfarbstoff Indigo, ist nachweislich umwelt­verträglich und verfügt über hervorragende Gleiteigenschaften, wie Tests zeigen, die das Institut für Schnee- und Lawinenforschung im Februar 2019 durchführte. Im Temperaturbereich von minus eins bis acht Grad schlägt Isantin gar die fluorierten Wachse; einzig bei Nassschnee kommt das Naturwachs – so wie jede andere bisherige Wachsinnovation – nicht an die Fluorwachse heran.   

Rein pflanzliche Skiwachse produzieren auch die US-Firma «MountainFlow» und das junge spanische Unternehmen «Nzero», das 2019 von der Stiftung Sicherheit im Skisport (SIS) mit dem «Eco Award» für umweltfreund­liche Entwicklungen in der Wintersportindustrie ausgezeichnet wurde. Die grossen Wachsmarken haben den Öko-Trend ebenfalls erkannt und führen neu auch «natürliche» Wachse im Sortiment. Toko etwa bietet seit 2021 mit «Natural Wax Universal» ein Produkt auf Basis von Paraffin- und Naturwachsen. Für die ambitionierten Läuferinnen und Läufer hat Toko eine natürliche «Performance»-Wachslinie entwickelt, die auf einer Kombination verschiedener Naturwachse basiert. Sie wird in der Saison 2023/24 in drei Varianten (für warme, normale und kalte Bedingungen) auf den Markt kommen.

Damit stehen nun auch die Alpinsportlerinnen und -sportler in der Verantwortung, durch bewusste Materialwahl ihren ­ohnehin schon naturnahen Sport auch noch umweltfreundlich auszuüben.

Nicolas Gattlen ist Reporter beim Pro Natura Magazin.

 Stefan Holm Stefan Holm
Erst wenn die Wachshersteller ihre Rezepturen mit all den notwendigen Nachweisen für geringe Giftigkeit und ­minimale Auswirkungen auf die Umwelt offenlegen, kann man den Produkten vertrauen.

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Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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