Kontrolle abgeben, beobachten und staunen
Kürzlich auf einer Wanderung im Aletschgebiet offenbart der Blick auf den Gletscher auch einen Hang, der ins Rutschen geraten ist. Wie ein Fächer öffnen sich die senkrechten Steinschichten, und die Arven strecken ihre Kronen in alle Himmelsrichtungen. Etwas später erfahre ich, dass der Wald in einem Naturwaldreservat im Misox brennt. Und auch so spät im Jahr lese ich immer wieder Nachrichten über das Ausmass des Windwurfs durch die Stürme Burglind und Frederike im vergangenen Winter.
Solche und weitere Naturereignisse sind bei uns immer wieder aufgetreten. Sie gehören zum natürlichen Kreislauf und gestalten die Natur. Doch der Klimawandel kann solche Naturereignisse verstärken und dazu führen, dass sie häufiger eintreten. Grössere Trockenheit, wie wir sie diesen Sommer erlebt haben, erhöht beispielsweise die Waldbrandgefahr. Starkniederschläge, wie sie in der Schweiz seit der Jahrtausendwende überdurchschnittlich oft und heftig registriert worden sind, können Überschwemmungen oder Erdrutsche auslösen. Der Gletscherschwund und der Rückgang des Permafrosts, beides offensichtliche Folgen der Erwärmung unseres Klimas, setzen ganze Gebirgsmassen in Bewegung.
Es ist der Mensch, der das Klima zerstört. Pro Natura bekämpft diesen Prozess entschieden und engagiert sich national und international für eine wirksame Klimapolitik, die den viel zu hohen CO2-Ausstoss markant senken muss. Doch der Wandel des Klimas ist längst im Gang, die zunehmenden Naturereignisse sind Zeugen dieser Entwicklung, und deshalb stellt sich für den Naturschutz die Frage, wie mit den Folgen dieser Ereignisse umzugehen ist.
«Störungen» schaffen Lebensräume
Natürliche Dynamik wird häufig ausschliesslich als Zerstörung wahrgenommen und als Schaden bezeichnet. Doch: Diese «Störungen» schaffen auch neue Lebensräume und Strukturen, wie sie in der Schweiz selten sind; beispielsweise Ruderalflächen und Pionierwälder. Gewisse Arten sind für ihr Überleben sogar auf diese Dynamik angewiesen.
Weil in unseren vom Menschen gestalteten und genutzten Landschaften die natürliche Dynamik nur noch sehr begrenzt vorhanden ist, wird im Naturschutz mitunter versucht, diese fehlende Dynamik künstlich nachzuahmen: So führt etwa das Ringeln von Bäumen zu einem grösseren Totholzangebot, das Lebensraum für unzählige holzbewohnende Käfer bietet. Oder das punktuelle Abtragen von Humus schafft offene Rohböden, die von spezialisierten Arten wieder besiedelt werden.
Flächen mit natürlicher Entwicklung dienen auch als Genreservoir sowie als Rückzugsort und Ausbreitungsquelle spezialisierter Arten. Ebenso leisten sie einen Beitrag zur Wissenschaft, indem wir die natürliche Entwicklung beobachten und daraus Lehren ziehen, zum Beispiel für eine effiziente und nachhaltige Waldbewirtschaftung. Und sie ermöglichen es uns, die Beziehung des Menschen zur Natur zu stärken und eine direkte Naturerfahrung zu machen. So etwa auch im grössten Naturraum der Schweiz, in dem diese natürliche Dynamik zugelassen wird: dem Schweizerischen Nationalpark.
- Matthias Sorg
Unerwartete Regenerationskraft
Erfahrungen aus vergangenen grossen Naturereignissen haben gezeigt, dass diese einige Überraschungen bereithalten können. Nach den grossflächigen Windwürfen durch den Sturm Lothar
im Winter 1999 wurde beobachtet, dass auf fast allen offenen Flächen wieder junger Wald aufwächst. Beim Waldbrand in Leuk von 2003 verbrannten auf einem grossen Teil der Fläche sowohl die Bodenvegetation als auch die Baumkronen. Bereits nach wenigen Jahren war die Fläche durch Krautpflanzen und Baumkeimlinge wieder besiedelt. Mit der Zeit sind nach den rasch wachsenden Pionierpflanzen aber auch die vorher häufigen Eichen und Föhren wieder zurückgekommen. Die Natur zeigte in diesen Fällen eine unerwartete Regenerationskraft.
Das Zulassen von natürlicher Dynamik darf selbstverständlich aber nicht zu einer menschlichen Gefährdung führen. Entscheidend ist es auch, solche Flächen als einen weiteren Beitrag für mehr natürliche Vielfalt zu betrachten. Es ist kein Entweder- oder zum traditionellen Kulturlandschaftsschutz. Beide Ansätze – sowohl gezielte Naturschutzmassnahmen als auch das Zulassen von natürlicher Dynamik – sind in unseren, vom Menschen geprägten Landschaften wichtig für eine vielfältige Natur. Auch Pro Natura führt in der Mehrzahl ihrer knapp 700 Naturschutzgebiete notwendige Pflegemassnahmen durch. In mehreren, vorwiegend grossräumigen Schutzgebieten kann sich die Natur aber frei entwickeln.
- Matthias Sorg
Unerwünschte Folgen sind möglich
Das Zulassen der natürlichen Entwicklung auf bestimmten Flächen – ob gross- oder kleinräumig, langfristig oder temporär, in abgelegenen oder gut erschlossenen Gebieten – kann auch unerwünschte Folgen haben. Neobiota können sich ansiedeln und von dort weiter ausbreiten, oder es entstehen ungewollte Schäden an Infrastruktur. In der kleinräumigen und sehr gut erschlossenen Schweiz kann es auch rasch zu Konkurrenz mit anderen Ansprüchen an diese Flächen kommen.
Und: Natürliche Extremereignisse dürfen auch nicht Überhand nehmen und zu häufig auftreten. Denn Extremereignisse haben nur bis zu einem gewissen Grad eine positive Wirkung auf die Natur.
Am 13. August 2003 brannten oberhalb von Leuk (VS) über 3 Quadratkilometer Wald nieder. Die Ursache war nicht natürlicher Art — es handelte sich um Brandstiftung —, doch natürlich war die Dynamik, die nach diesem Ereignis einsetzte. Denn aus Kostengründen wurde entschieden, auf eine Wiederaufforstung grösstenteils zu verzichten und somit der natürlichen Entwicklung freien Lauf zu lassen.
Diese liess nicht lange auf sich warten: Nach drei Jahren waren drei Viertel der verkohlten Oberfläche wieder grün. Forschende der WSL fanden auf der Fläche innert zehn Jahren 560 Pflazenarten und fast 2000 (!) Arten von Insekten, Spinnen und Asseln, darunter Käferarten, die sonst in der Schweiz noch kaum je gesichtet worden sind. Viele bedrohte oder seltene Vogelarten wie Wendehals, Gartenrotschwanz oder Steinrötel besiedelten das verbrannte Gebiet in hoher Zahl. Die offene Fläche und die durch das Feuer freigesetzten Nährstoffe boten ideale Voraussetzungen für eine üppige Naturentfaltung.
Der aussergewöhnliche Zustand ist jedoch nicht von Dauer, denn der Wald erobert sich das Terrain zurück: Bereits im zweiten Jahr keimten viele Laubbäume, deren Samen vom Wind herangetragen wurden. Die meisten der verkohlten Flaumeichen schafften es sogar, wieder auszuschlagen. In den tieferen Lagen der Brandfläche wächst anstelle des bisherigen Nadelwaldes ein Laubwald — eine klimabedingte Entwicklung, die andernorts im Wallis ebenfalls abläuft, wenngleich wesentlich langsamer. Die natürliche Dynamik nach dem Waldbrand bot also nicht nur eine seltene «Happy Hour» für die Biodiversität, sondern hinterlässt langfristig einen Wald, der dem künftigen Klima besser angepasst sein wird.
Der Schweizerische Nationalpark (SNP) wurde anfangs des 20. Jahrhunderts von der heutigen Pro Natura und der Akademie für Naturwissenschaften geschaffen, um ein Stück «ursprünglicher Alpennatur» sich selbst zu überlassen und die natürliche Entwicklung wissenschaftlich zu dokumentieren. Das Konzept des Totalschutzes war damals revolutionär, und der SNP ist auch heute noch alpenweit das grösste Totalreservat. Prozessschutz gehört neben dem Schutz von Pflanzen, Tieren und Lebensräumen zu den zentralen Zielen des SNP. Zu diesen Prozessen gehören auch Lawinen. Für viele Menschen ist es schwer nachvollziehbar, was das Erstrebenswerte an einem Lawinenniedergang sein soll und weshalb der SNP keine Massnahmen gegen «Lawinenschäden» ergreift.
Der SNP muss sich deshalb der Herausforderung stellen, den Sinn von Prozessschutz zu erklären. Dank der Forschung weiss man, dass Lawinen nicht nur Zerstörung bringen, sondern einen dynamischen Faktor im natürlichen Kreislauf darstellen. Sie schlagen Schneisen in die Bergwälder, schaffen dadurch neuen Lebensraum für lichtbedürftige Pflanzen- und Tierarten und wirken als Katalysatoren der Biodiversität. So kann, wie im Bild ersichtlich, eine artenreiche Kraut- und Strauchschicht entstehen, die auch vielen Insekten Nahrung und Lebensraum bietet. Deshalb erstaunt es nicht, dass gemäss einer Studie des Schnee- und Lawinenforschungsinstituts SLF in Lawinenschneisen dreimal mehr Arten leben als im angrenzenden Wald.
Sucht man online nach «Derborence», sind die Mehrheit der Treffer Ausflugstipps. Die Beschreibungen sind überschüttet mit Superlativen, vor allem zur Schönheit der wilden Landschaft. Hätte man im 18. Jahrhundert die Bewohner der benachbarten Dörfer gefragt, wäre die Reaktion eine andere gewesen. Denn die Menschen hatten Angst vor den Naturgewalten im Walliser Hochtal. In den Jahren 1714 und 1749 ereigneten sich dort zwei verheerende Bergstürze. Diese überschütteten einen grossen Teil der früheren Alpenweiden und Alpgebäude mit bis zu 100 Meter hohem Geröll und stauten einen See auf: den Lac Derborence. Das Berg massiv, aus dem sich die Felsmassen lösten, wurde von den Einheimischen deshalb in «Les Diablerets», die Teufelshörner, umbenannt. Einzelne Felsbrocken donnerten auch nach den grossen Bergstürzen regelmässig ins Tal, deshalb mieden Einheimische fortan diese gefährliche Gegend. Somit entwickelte sich an den Hangflanken während 300 Jahren einer von nur drei Urwäldern in der Schweiz. Das häufige Totholz der abgestorbenen und teils umgestürzten Baumriesen bietet einen Lebensraum, der in der Schweiz sehr selten geworden ist. Mittlerweile erschliesst eine abenteuerliche Zufahrtsstrasse das Tal, und im Sommer finden zahlreiche Besucher auf einem kleinen Pfad im Wald und am See Erholung. Im Winter aber ist die Strasse geschlossen und das Tal immer noch so wild, wie es während mehreren Hundert Jahren war.
68 Kubikmeter Wasser pro Sekunde schossen am Abend des 12. Mai 1999 durch die Bünz, im Jahresdurchschnitt sind es 1,1 Kubikmeter. Diese enormen Wassermengen veränderten innerhalb weniger Stunden einen Talabschnitt dieses Bachs, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf weiten Strecken in ein enges Korsett gedrängt wurde. Bei Möriken, einem Bereich mit etwas mehr Gefälle, begannen die Ufer zu erodieren, zeitgleich wurden durch einen Rückstau die umliegenden Ackerböden geflutet, dadurch wurde dort das Land abgeschwemmt. Es entstanden neue Seitenarme, bald mass das ursprünglich acht Meter breite Bachbett 40 bis 50 Meter Breite. Rund vier Hektaren Kulturland und 12 000 Kubikmeter Material wurden in einer Nacht umgelagert oder weggeschwemmt. Zu viel, dass die früheren Verhältnisse hätten wiederhergestellt werden können. Deshalb entschieden verschiedene kantonale Fachstellen, eine Auenlandschaft entstehen zu lassen. Durch Tausch oder Kauf konnten 20 Hektaren in den Besitz des Kantons und 27 Hektaren in den Besitz der Standortgemeinden überführt werden. Weitere Hochwasser 2007 und 2015 haben die Aue wieder neu modelliert.
Die starken Windböen von Burglind Anfang Jahr haben in Erinnerung gerufen, welche Kraft Stürme an den Tag legen können. Danach liegen und stehen Bäume verdreht, abgebrochen oder entwurzelt auf den Windwurfflächen im Wald. Vor zwanzig Jahren durchquerte der Orkan Lothar die Schweiz und schlug zahlreiche Schneisen in die Wälder der Schweiz, so auch im Rorwald im Kanton Obwalden. Die Korporation «Teilsame Lungern-Obsee» machte aus der Not eine Tugend: Sie sparte sich die aufwendigen und teuren Aufräumarbeiten und schied im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Kanton und Pro Natura ein Waldreservat zugunsten der Natur aus. Im Kern des Reservats entwickelt sich der Wald seither ohne jeglichen menschlichen Eingriff.
Für das scheue Auerhuhn, das hier für die Schweiz ungewöhnlich hohe Dichten aufweist, ist dieser Nutzungsverzicht ein Segen. Ausserdem profitieren vom Totholz, das durch den Sturm entstanden ist, zahlreiche Insekten und Pilze. Wissenschaftliche Untersuchungen der eidgenössischen Forschungsanstalt WSL zeigen schon jetzt, dass sich die nächste Baumgeneration auch ohne forstliche Nachhilfe gut entwickelt und artenreich ist. Ein natürlicher Prozess nach Sturmereignissen in Fichtenwäldern ist auch das Auftreten des Buchdruckers, der bekanntesten Borkenkäferart. Während im Waldreservat das Absterben von Bäumen ein Teil der natürlichen Dynamik ist, war ein flächiger Befall der Schutzwälder entlang der benachbarten Giswiler Laui aus Sicherheitsgründen hingegen nicht erwünscht. Deshalb wurde zwischen Schutzwald und Waldreservat ein Pufferstreifen eingerichtet, befallene Bäume wurden dort entfernt. Dies zeigte Wirkung: Die Borkenkäfer drangen kaum in den Schutzwald vor, und im Waldreservat gingen die Bestände von alleine wieder zurück.
Dank des Waldreservats wird sich der Rorwald zu einem «Urwald» entwickeln können: Die durch Lothar entstandenen Lichtungen werden sich langsam schliessen, durch das Umfallen von alten grossen Bäumen entstehen wieder neue kleinere Lichtungen. Und der Prozess beginnt von vorne.
Positiv nur bis zu einem gewissen Grad
Treten diese zu häufig auf, kann sich die Natur nicht mehr regenerieren. An vielen Orten der Welt lassen sich die tragischen Konsequenzen dieser Entwicklung bereits feststellen. Dürren, Stürme oder Überschwemmungen haben schon ganze Landstriche unbewohnbar gemacht und zu grossen Flüchtlingsströmen geführt. An einer griffigen Klimapolitik ist deshalb unbedingt festzuhalten. Auf nationaler Ebene sind die Naturschutzverbände jetzt gefordert, sich mit den Folgen von Naturereignissen auseinanderzusetzen. Natürliche Dynamik ist als Konzept im Naturschutz schwieriger zu akzeptieren und auch zu erklären, weil es ergebnisoffen ist und die Entwicklung nicht direkt gesteuert werden kann. Es fällt uns scheinbar schwer, das Steuer loszulassen. Ob das so ist, weil es uns nutzlos fühlen lässt und uns die fehlende Kontrolle vielleicht sogar Angst macht? Mit Geduld und Offenheit können wir uns darauf einlassen, eine unbekannte Entwicklung abzuwarten. Uns überraschen lassen. Und vielleicht lässt uns das, was wir dann beobachten können, still werden und staunen.
LESLY HELBLING ist bei Pro Natura Projektleiterin für Schutzgebiete und Waldreservate.
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Info
Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.
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