Die Alp Flix weisst eine hohe Biodiversität auf Raphae Weber
15.10.2024 Artenschutz

«Wir haben zu wenige Schutzgebiete, in denen Arten ein sicheres Zuhause finden»

Der Schweiz fehlt es an grossflächigen und gut vernetzten Biodiversitäts-Hotspots. Urs Tester, abtretender Leiter der Abteilung Biotope und Arten bei Pro Natura, zieht Bilanz zum Management von Naturschutzgebieten.

In der Schweiz gibt es keine Übersicht und Strategie, wie Schutzgebiete übers ganze Land verteilt und vernetzt werden sollen. Im jetzigen Flickwerk von Schutzgebieten mangelt es zudem an vielseitigen und qualitativ hochstehenden Naturschutzgebieten, die unterschiedliche Habitate vereinen und eine grosse Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten beheimaten – sogenannte Hotspots der Biodiversität.

Pro Natura sichert in der Schweiz über 800 Naturschutzgebiete, darunter auch einige Hotspots der Biodiversität. Eine kleine Auswahl davon, mit unterschiedlichen Eigenschaften, stellen wir in diesem Magazin vor. Parallel dazu unterhalten wir uns mit unserem abtretenden Abteilungsleiter Urs Tester über das Management von Naturschutzgebieten.

Pro Natura Magazin: «Welche Schutzgebiete braucht die Schweiz?»; diese Frage erörterst du im Buch, das zu deiner Pensionierung erscheint. Sind es vor allem grossflächige, gut vernetzte Schutzgebiete, wie wir sie in dieser Ausgabe vorstellen?

Urs Tester: Davon brauchen wir sicher mehr. Viele gefährdete Arten sind aufgrund ihrer Lebensweise auf grossräumige Gebiete angewiesen. Auch für die hochspezialisierten Arten brauchen wir grosse Schutzgebiete. Denn in kleinen, isolierten Gebieten ist das Risiko hoch, dass sie aussterben. Manchmal reichen zwei aufeinander­ folgende Hitzesommer oder Stickstoffeinträge aus der Nachbarschaft – und schon verschwindet eine Art aus dem Gebiet. In grossen Schutzgebieten fallen solche Einflüsse weniger stark ins Gewicht. Die spezialisierten Arten können sich dort besser halten. Zudem steigt mit der Grösse die Chance, dass Tiere und Pflanzen einwandern. Das zeigt sich auf Inseln: Je grösser sie sind, desto mehr Arten kommen dort vor.

Es spricht also viel für die Schaffung von grossräumigen Schutzgebieten.

Ja, aber mit wenigen sehr grossen Naturschutzgebieten lassen sich nicht alle geografischen Regionen und Lebensraumtypen der Schweiz abdecken. Es braucht also auch übers ganze Land verteilte kleinere Schutzgebiete. Wichtig ist zudem, dass die Schutzgebiete nicht zu weit auseinanderliegen und über sogenannte Trittsteine – zum Beispiel Hecken, extensiv bewirtschaftete Wiesen, Teiche, offene Bäche – miteinander vernetzt sind. Auch das sehen wir bei Inseln: Bei grösserer Distanz vom Festland oder von anderen Inseln nimmt die Artenzahl ab. Die «Inseltheorie» liefert uns also wichtige Argumente für den Aufbau eines solchen Biotopverbunds.

Artenreiche Baumhecke bei Mümliswil-Ramiswil, SO Susanna Meyer
Artenreiche Baumhecke bei Mümliswil-Ramiswil, SO
In der Schweiz gibt es doch schon viele kleine Schutzgebiete. Jede Gemeinde hat einen geschützten Teich, einen ehemaligen Steinbruch oder ähnliches.

Das ist so, die Schweiz hat sehr viele sehr kleine Schutzgebiete. Sogar manche Biotope von nationaler Bedeutung sind nicht grösser als ein Handballfeld. Ein einzelner kleiner Teich kann keine Populationen sichern. Er kann als Trittstein dienen, sofern in der Nähe noch grössere Lebensräume vorhanden sind. In der Schweiz haben wir zu wenige Schutzgebiete, in denen Arten ein sicheres Zuhause haben oder Zuflucht finden. Pro Natura selber versucht, mit gutem Beispiel voranzugehen und zu einem funktionsfähigen Schutzgebietsnetz beizutragen: Wir sichern schweizweit 260 Quadrat­kilometer Naturschutzgebiete und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität. Es braucht aber noch weitere hochwertige Flächen.

Was zeichnet ein gutes Schutzgebiet aus?

Das Gebiet muss gut vernetzt sein und über eine ausreichend gros­se Pufferzone verfügen. Viele Schutzobjekte befinden sich mitten in einer intensiv genutzten Landschaft und sind vielfältigen Risiken ausgesetzt, beispielsweise Düngereinträgen, Pestiziden, Kunstlicht, Lärm, Verkehr. Je härter die Grenzen, umso anfälliger sind die Schutzgebiete. Idealerweise erfolgen die Übergänge vom Schutzgebiet in die intensiver genutzten Flächen fliessend. Das ist auch für das Landschaftsbild ein grosser Gewinn. Entscheidend ist schliesslich, wie das Gebiet gemanagt und gepflegt wird.

Was ist dabei zu beachten?

Zunächst einmal muss eine klare Zielsetzung gegeben sein: Welche Lebensräume will man erhalten oder aufwerten? Ein Managementplan gibt vor, wie diese Ziele zu erreichen sind. Und dann geht es an die Umsetzung: Schutzgebiete sind keine Selbstläufer, sie müssen betreut und weiterentwickelt werden. Das gilt auch für Gebiete, wo man die natürliche Dynamik wieder zulässt wie zum Beispiel in einem Naturwaldreservat oder in einer Aue. Mit einer guten Information und Besucherlenkung sowie der Präsenz von Rangerinnen und Rangern lassen sich Störungen vermeiden oder auf einem tiefen Level halten. Leider wird die Betreuung und Pflege in vielen kommunalen, kantonalen und nationalen Schutzgebieten vernachlässigt. In der Folge verlieren sie an Qualität. Flachmoore verbuschen, in Auen breiten sich invasive Neophyten aus, Hochmoore trocknen aus.

Was sind die Gründe?

Die mangelhafte Betreuung spiegelt die Geringschätzung wider, welche Teile der Gesellschaft der Natur entgegenbringen. Also ist auch die Politik nicht bereit, ausreichend Geld und Personal für die Entwicklung der Schutzgebiete bereitzustellen. Weil das Personal fehlt, erhalten Landwirte statt Wertschätzung für ihre Arbeit Standardpflegeverträge, haben keine Ansprechperson, und weil das Geld knapp ist, fehlt ihnen die Sicherheit, dass die Naturschutzbeiträge ausbezahlt werden. Das wirkt sich dann rasch auf ihre Motivation und die Qualität des Schutzgebiets aus.

Die Schweiz verfügt nur über wenige Schutzgebiete, in denen die Natur sich selbst überlassen wird. In den meisten Gebieten wird gemäht, beweidet, geschnitten oder gesägt. Wäre es nicht hilfreicher für die Natur, wenn mehr Wildnisgebiete ausgeschieden würden?

Viele Arten würden ganz klar profitieren, deshalb setzt sich Pro Natura seit vielen Jahren für mehr Wildnis ein. Die Schweiz ist aber auch reich an Kulturlandschaften mit spezifischen Artengemeinschaften. Ohne Kultur gäbe es einen Teil dieser Arten nicht bei uns. Die aus dem mediterranen Raum stammende Grosse Hufeisennase etwa oder der aus dem Nahen Osten eingewanderte Steinmarder konnten sich in der Schweiz nur ansiedeln, weil sie im Kulturland und im Siedlungsgebiet geeignete Lebensräume und Strukturen vorfanden. Auch die Ackerbegleitflora ist über die Kultur in die Schweiz eingezogen. Sie stammt zu grossen Teilen aus dem Nahen Osten und bereichert nun die Ackerbaugebiete unseres Landes – jedenfalls dort, wo man ihr den nötigen Raum gibt. Die Landschaftspflege ist also ein wichtiges Element zum Er- halt der Artenvielfalt. Wo die traditionelle Bewirtschaftung nicht mehr praktiziert wird, müssen wir sie durch Pflegemassnahmen nachahmen.

Simuliert wird in einigen Schutzgebieten auch die natürliche Dynamik von Gewässern, beispielsweise mit dem Bau von Tümpeln und Teichen oder mit ständigen Baggereingriffen in Kiesgruben, die als Ersatzlebensräume für typische Auenbewohner dienen sollen. Funktioniert das?

Es ist wohl die aufwändigste und herausforderndste Kategorie an Schutzgebieten: Weil Flüsse und Bäche nicht mehr frei fliessen und ihre Dynamik entfalten, braucht es Ersatzlebensräume, in de nen die natürliche Dynamik durch den Bagger ersetzt wird. Die Erfahrung zeigt, dass diese Massnahmen durchaus wirksam sind.

Gibt es eigentlich eine Art «Idealzustand», an dem sich der Naturschutz orientiert?

In dieser Hinsicht hat sich einiges geändert: Als man vor mehr als 100 Jahren den Schweizerischen Nationalpark einrichtete, hatte man noch ein statisches Bild der Natur. Man dachte, dass der Wald nach den grossen Rodungen im 19. Jahrhundert stetig wächst, bis er sich in ein quasi ewig anhaltendes Gleichgewicht setzt. Dieses Gleichgewicht galt als Idealzustand, den es zu erreichen gilt, nicht nur im Wald, in allen Ökosystemen. In den 1970er- Jahren veränderte sich die Sichtweise auf die Natur. Nun setzte sich die Idee von sich wiederholenden Zyklen durch. Wälder wachsen, brechen zusammen und wachsen wieder. Die Natur verändert sich also – aber stets auf dieselbe Art. Auch dieses Bild ist mittlerweile überholt. Die Natur verändert sich ständig, mit dem Klimawandel wird das augenfällig. Sie kehrt nicht mehr zu früheren Zuständen zurück, sondern bewegt sich spiralförmig weiter.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das Management von Naturschutzgebieten?

Die Ziele für ein Schutzgebiet liegen nicht in der Vergangenheit. Es gelingt uns auch nicht, ein Moor oder eine Magerwiese zu konservieren. Mit guter Schutzgebietsarbeit können wir aber dazu beitragen, dass sich die Natur in Richtung Vielfalt entwickelt und nicht verarmt.

Von NICOLAS GATTLEN, Reporter, und RAPHAEL WEBER, Chefredaktor des Pro Natura Magazins.

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

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