Kampagnenfahne hängt am Doubs in einem Baum. Raphael Weber
08.08.2024 Biodiversitätskrise

«Wir können die Trendwende schaffen»

zur sache

«Tschüss Schweizer Lebensmittelproduktion! Tschüss Schweizer Holz! Tschüss Schweizer Stromversorgung! Tschüss Entwicklung im Berggebiet!» Mit diesen Slogans will die Gegenkampagne zur Biodiversitätsinitiative der Stimmbevölkerung weis machen: All diese Nutzungen werden mit einer Annahme der Initiative verunmöglicht. Echt jetzt? Das pure Gegenteil ist der Fall.

Ohne Biodiver­sität keine fruchtbaren Böden, keine Bestäubung – 80 Prozent der wichtigsten Kulturpflanzen sind davon abhängig – und damit keine gesunden Nahrungsmittel. Biodiversität ist auch Voraussetzung für prosperierende, vitale Wälder, die für den Klimawandel gewappnet sind. Und weshalb zieht es uns in unserer Freizeit und in unse­ren Ferien nach draussen? Richtig: wegen der vielfältigen Natur, abwechslungsreichen und typischen Landschaften sowie charakteristischer, unverwechselbarer Ortschaften. Und die Förderung erneuerbarer Energien? Biodiversi­tätskrise und Klimakrise verstärken sich gegenseitig und können nur gemeinsam gelöst werden. Artenreiche Le­bensräume mildern den Klimawandel, und sie passen sich besser und rascher an ihn an. Der Energiewende steht die Biodiversitätsinitiative nicht im Wege.

Das alles zeigt: Die gegnerische Kampagne greift ins Leere; sie argumentiert mit Szenarien, die mit den Inhalten der Biodiversitätsinitiative rein gar nichts zu tun haben. Der Tourismus, die nachhaltige Energie­produktion, die Nahrungsmittelproduktion und die Holz­wirtschaft sind alle auf intakte Lebensgrundlagen ange­wiesen – mit Leistungen, die für uns existenziell sind und die nicht einfach mit technischen Lösungen ersetzt wer­den können. Mit ihrer grobschlächtigen, auf bodenlosen Behauptungen und Falschaussagen basierenden Kam­pagne verfolgt die Gegnerschaft das Ziel, diffuse Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Sie verkennt die existen­zielle Bedeutung der Biodiversität als unsere Lebens­grundlage. Und sie stellt den grossen Handlungsbedarf in Abrede.

Dabei anerkennen auch Bundesrat, Kantone, Städte und Gemeinden, dass wir zur Biodiversität unbedingt Sorge tragen müssen. Die Wissenschaft spricht vom Beginn eines sechsten Massenaussterbens – mittendrin die Schweiz, wo der Handlungsbedarf im internationalen Vergleich besonders gross ist. Der Anteil gefährdeter Ar­ten übersteigt deutlich jenen unserer Nachbarländer, und er ist gemäss OECD höher als in den meisten anderen In­dustrieländern. Schlusslicht hingegen sind wir europaweit bei den Schutzgebieten – zusammen mit Bosnien­-Herze­gowina und der Türkei. Vorbei der Pioniergeist und die Vorreiterrolle der Schweiz, wo vor über 100 Jahren der erste Nationalpark im Alpenraum geschaffen worden ist (mit Pro Natura als einer der Gründerorganisationen).

Urs Leugger-Eggimann, directeur général de Pro Natura
Appell für eine respektvolle und faktenbasierte Debatte zur Biodiversität!

Unsere Verantwortung gegenüber kommenden Gene­rationen erfordert eine ernsthafte Debatte. Darum ruft die Biodiversitätsinitiative in einem Appell zu einer faktenbasierten und respektvollen Auseinandersetzung zur Biodiversität auf. Diesen Appell haben bis Ende Juni rund 25 000 Personen unterschrieben – ein deutliches Zeichen.

Wenn wir jetzt nicht handeln, wirds teuer

Folgende, wenig verbreitete Zahl mag den dramatischen Lebensraumverlust der letzten Jahrzehnte verdeutlichen: Seit 1900 haben wir etwa 7600 Quadratkilometer an artenreichen Lebensräumen verloren: Trockenwiesen, Auen, Moore. Das entspricht der Fläche der Kantone Bern und Freiburg oder fast einem Fünftel unserer gesamten Landesfläche! Die schleichende Zerstörung unserer Natur, die Verluste von Landschaft und Baukultur haben wirklich ein alarmierendes Ausmass erreicht – mit gravierenden Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf die Wirtschaft und auf die Zukunft unserer Kinder und Enkel­kinder.

A propos Wirtschaft: Wenn wir jetzt nicht handeln, wirds sehr teuer: Der Bundesrat hat errechnet, dass die Kosten für das Nichtstun bis im Jahre 2050 14 bis 16 Mil­liarden Franken jährlich betragen werden, 2 bis 2,5 Pro­zent des Bruttoinlandprodukts. Auch das «Das World Economic Forum WEF» stuft die Risiken, die mit dem Ver­lust von Biodiversität verbunden sind, für die globale Wirtschaft und unseren Wohlstand als sehr hoch ein. Kommt hinzu: Schützen und Nutzen schliessen einander nicht aus. Im Gegenteil. In den allermeisten Gebieten ge­hen Schützen und Nutzen Hand in Hand. Eine angepasste wald-­ und landwirtschaftliche Bewirtschaftung ist mög­lich – ja teilweise sogar nötig, um die Schutzziele zu er­reichen. Und die Gelder zur Förderung der Biodiversität fliessen direkt in die Regionen: Rund 40 Prozent an regi­onale Baufirmen sowie Planungs­- und Unterhaltsbüros, weitere rund 40 Prozent an die Landwirtschaft. Der Rest finanziert Aufwände der Waldwirtschaft und der Gemein­den in den Regionen.

Ein Ja zu unserer Lebensgrundlage

Die Abstimmungskampagne ist eine grosse Chance, die Bevölkerung über Bedeutung und Zustand der Biodiver­sität zu informieren, den Handlungsbedarf aufzuzeigen und die Handlungsbereitschaft zu fördern – für ein JA am 22. September und für einen sorgfältigeren und zukunfts­fähigen Umgang mit unseren Lebensgrundlagen über diesen Abstimmungssonntag hinaus.

Eine breite Allianz aus mittlerweile sieben Trägerorganisationen, 67 natio­nalen unterstützenden Organisationen, über 200 Part­nern in den Kantonen, Hunderten lokalen Naturschutz­organisationen und rund 1900 Freiwilligen setzt sich für ein JA zur Biodiversitätsinitiative und damit für die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen ein (Stand Ende Juni). Das macht Mut und gibt Zuversicht, dass wir die dringend notwendige Trendwende schaffen. Mit einem JA zur Biodiversitätsinitiative geben wird Bundesrat und Parlament den Auftrag, die erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente festzulegen. Das ist kein Luxus, sondern es ist höchste Zeit dafür. Es geht um unsere Lebensgrundlagen. Darum: «Hallo Biodiversität!» statt «Tschüss Schweiz!»

URS LEUGGER-EGGIMANN, Pro Natura Geschäftsleiter

Weiterführende Informationen

Info

Dieser Artikel wurde im Pro Natura Magazin publiziert.

Das Pro Natura Magazin nimmt Sie mit in die Natur. Es berichtet über kleine Wunder, grosse Projekte und spannende Persönlichkeiten. Es blickt hinter die Kulissen politischer Entscheide und schildert, wo, wie und warum Pro Natura für die Natur kämpft. Als Mitglied erhalten Sie das Magazin fünf mal im Jahr direkt in Ihren Briefkasten.